Wildes Herz
Wanderschaft auf der Suche nach ein bisschen zu essen fortzusetzen.
Manchmal stand sie tatsächlich kurz davor, sich aufzugeben. Es war, als hörte sie in sich eine lockende Stimme, die ihr sanft zuredete, doch einfach liegen zu bleiben, sich nicht mehr weiter über diese schreckliche Straße der Sterne zu quälen und still darauf zu warten, dass der Rest Leben in der Kälte langsam aus ihr wich und der Tod sie von all dem erlöste. Hatte ihre Mutter nicht selbst gesagt, dass Sterben gar nicht so schlimm war? Und wen gab es denn noch auf der Welt, der sie vermissen würde, wenn sie nicht mehr lebte? Und wofür, für welche Zukunft sollte sie auch kämpfen? Wofür lohnte es sich, am Leben zu bleiben? Nur um die Qual noch weitere Monate zu ertragen?
Aber letztlich widerstand sie diesen tückischen Einflüsterungen jener fremden Éanna in ihr, die lieber aufgeben als weiterkämpfen wollte. Und dann zwang sie sich stöhnend, durchgefroren und mit steifen Gliedern auf die Beine, um einem neuen langen Tag ins abweisende Gesicht zu sehen und zu versuchen, Essen zu finden und am Leben zu bleiben.
Und dann kam jener eisige Tag, als der Irrweg ihrer Wanderschaft sie aus den Slieve Bloom Mountains zu der Stadt Mountmellick brachte. Und endlich einmal sah es wieder danach aus, als ob das Schicksal es gut mit Éanna meinen würde.
Je näher Éanna der Stadt kam, desto hübscher und ansehnlicher wurden die Häuser am Wegesrand. Tatsächlich war die Gegend hier weitaus wohlhabender als die Landstriche weiter unten im Süden, doch sie hatte keine Augen für den protzigen Reichtum hinter den hohen Hecken. Éanna war viel zu sehr damit beschäftigt, sich ihre nächste Mahlzeit zusammenzusuchen. Und so konnte sie ihr Glück kaum fassen, als diese ihr fast wie von selbst in den Schoß fiel.
Sie hatte noch nicht den Marktplatz erreicht, um sich nach einer Suppenküche umzusehen, als der Duft von frisch gebackenem Brot sie in einer Seitenstraße innehalten ließ. Mit knurrendem Magen sah Éanna durch das halb offen stehende Tor einer Bäckerei und beobachtete, wie ein Gehilfe Säcke mit Brot auf die Ladefläche eines leichten einachsigen Wagens lud. Ein Sack schien nicht richtig zugebunden gewesen sein, denn als der Gehilfe wegging, bemerkte er nicht, dass ein Brot herausgerutscht war.
Éanna zögerte keinen Moment. Sich heimlich ein Brot zu nehmen, war etwas anderes, als einen kostbaren versilberten Spazierstock zu stehlen. Und was konnte ihr auch schon groß drohen, sogar wenn sie dabei erwischt wurde? Höchstens ein paar grobe Tritte, Hiebe und Verwünschungen.
Kaum war der Gehilfe durch die Hintertür wieder in der Bäckerei verschwunden, als Éanna auch schon durch das Tor und hin zum Wagen stürzte, das Brot aufhob, es sich unter ihren Umhang steckte und machte, dass sie wieder aus dem Hof und aus der Stadt kam.
Erst als sie sich ein gutes Stück außerhalb befand, hielt sie Ausschau nach einem sicheren Platz, wo sie auch die Nacht verbringen konnte. Schließlich fiel ihr eine windschiefe Feldscheune ins Auge, die sie beinahe übersehen hätte, weil sie recht versteckt hinter einigen Bäumen stand. Das dazugehörige Gehöft, das etwas weiter unterhalb lag, sah verlassen aus. Wer hier vorbeikam und so wie sie einen Unterschlupf für die Nacht suchte, würde sich vermutlich für die Kate entschließen.
Die Brettertür der Scheune fehlte, und Éanna spähte erst einmal vorsichtig hinein, ob sie im Innern vielleicht auf Tote stoßen würde. Zu ihrer Erleichterung war die Feldscheune bis auf ein wenig dreckiges Stroh, ein paar alte Tröge und die Reste eines alten Feuers leer.
Sie kratzte das bisschen Strohdreck zu einem kleinen Haufen an der Längswand links vom Eingang zusammen, setzte sich auf dieses bescheidene Polster, das sie später beim Schlafen ein wenig vor der Bodenkälte schützen würde, und holte das Brot hervor.
Andächtig strich sie über den langen, knusprigen Laib. Sie wollte die Vorfreude möglichst lange ausdehnen, bevor sie zum Messer griff und das Brot anschnitt. Wie köstlich würde es gleich sein, das Endstück in den Händen zu halten, es langsam in Stücke zu brechen und diese dann im Mund zergehen zu lassen!
Sie wünschte, Emily wäre jetzt an ihrer Seite gewesen. Als sie das letzte Stück des ersten Viertels zerkaut und heruntergeschluckt hatte, schloss sie mit einem wohligen Seufzen die Augen und hing dem köstlichen Nachgeschmack in ihrem Mund nach. Nicht, dass ihr Hunger damit gestillt worden
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