Wildes Herz
das jenseits des Waldes wütete.
Dreizehntes Kapitel
Fast drei Tage harrte Éanna in Laurencetown aus. Von morgens bis abends pendelte sie zwischen der Suppenküche und dem Marktplatz hin und her, immer in der Hoffnung, wenigstens auf Emily zu treffen.
Aber mit jeder Stunde, die verging, ohne dass eine der Gefährtinnen an den vereinbarten Treffpunkten der Stadt auftauchte, sank auch die Hoffnung, sie je wiederzusehen. Entweder war ihre Flucht durch den Wald gescheitert und man hatte sie in den Quarantänebezirk zurückgetrieben, oder aber sie waren von den Soldaten kaltblütig niedergeschossen worden. Die Vorstellung, dass Emily oder Bridget möglicherweise gar nicht mehr lebte, weil sie im Wald den Tod gefunden hatten, bereitete ihr fast körperliche Schmerzen. Die beiden waren ihr in den anderthalb Wochen ihrer gemeinsamen Wanderschaft ans Herz gewachsen. Und auch wenn sie die scharfzüngige Caitlin nicht mochte, so wünschte sie ihr ganz gewiss nicht den Tod.
Éanna lebte in diesen Tagen fast ausschließlich von der einen Mahlzeit, die sie in der öffentlichen Suppenküche erhielt. Das wenige, das sie sich dazu noch erbetteln konnte, zählte kaum. Zum Glück erwies sich die Mahlzeit bei der Society of Friends , wie sich die Hilfsorganisation nannte, als das beste Essen, das sie je in einer solchen Suppenküche vorgesetzt bekommen hatte. Es war eine ordentlich dickflüssige Brotsuppe und hielt den Hunger für viele Stunden in Schach. Bei dieser Gesellschaft der Freunde handelte es sich um Quäker aus Dublin. Diese Menschen unternahmen keinen Versuch, den Mittellosen und Hungernden zu ihrem strengen Glauben bekehren zu wollen.
Aber den Männern dieser Gesellschaft, die am Eingang den Einlass überwachten, fiel sie doch schon bald unangenehm auf. Weil sie sich dort so viele Stunden des Tages herumtrieb, argwöhnten sie, sie wolle sich erneut in die Schlange mogeln und sich eine zweite Tagessuppe erschleichen. Die Folge war, dass sie am dritten Tag barsch abgewiesen wurde, weil der Mann glaubte, sie erst vor Kurzem schon einmal in der Menge gesehen und zum Essen vorgelassen zu haben. Alle Beteuerungen, dass dem nicht so war und sie auf dem Platz nur auf jemanden gewartet hatte, halfen nichts. Die bösen Blicke, die sie von vielen Leidensgefährten aus der Menge trafen, taten ein Übriges dazu, damit sie sich schnell von dort wegstahl.
Éanna beschloss, die Stadt noch am selben Tag zu verlassen und nach Athlone zu wandern, das etwa zwei Tagesmärsche weiter oben im Norden lag. Die Hoffnung, ihre Freundinnen in Laurencetown zu treffen, hatte sie inzwischen aufgegeben. Aber Emily hatte des Öfteren von Athlone gesprochen, und vielleicht hatte sie es geschafft, sich bis dorthin durchzuschlagen?
Doch auch in den Suppenküchen Ahtlones fand sich keine Spur von den Freundinnen, und so machte sich Éanna nach einigen Tagen erneut auf den Weg, diesmal an der Ostseite des Shannon River entlang.
Während ihrer Zeit in Laurencetown hatte Éanna an das Versprechen zurückgedacht, das sie Catherine gegeben hatte. Sie zweifelte mehr denn je daran, dass Dublin ein gutes Ziel war, denn selbst wenn sie die Stadt erreichte und tatsächlich die McCarthys finden sollte – in so furchtbaren Zeiten wie diesen würde Maggie dort wohl kaum mit offenen Armen empfangen werden!
Und dennoch trieb es sie voran. Denn so hatte sie wenigstens ein Ziel vor Augen, wenn es auch noch so unwahrscheinlich erschien, dass Éanna es je erreichen sollte.
Das erste Mal seit dem Tod ihrer Mutter war Éanna für lange Wochen allein auf der Straße der Sterne unterwegs, und was das bedeutete, das sollte sie nur allzu rasch erfahren. Es ging in den Dezember, und jetzt fanden sich kaum noch genug Beeren, Nesseln und Nüsse, mit denen sie den Hunger bekämpfen konnte. Mit milderem Wetter war auch nicht zu rechnen, sondern eher mit Schnee. An manchen Tagen war die Luft schon so kalt, dass Éannas Atem wie Dampf aus dem Mund kam, und der Himmel sah so aus, als würde es gleich zu schneien beginnen.
Der Hunger wurde immer größer. Die paar Almosen, die sie in größeren Ansiedlungen erbettelte, und gelegentlich das Essen einer Suppenküche reichten bei Weitem nicht, um sie bei Kräften zu halten. Und dabei lagen die langen Wintermonaten erst noch vor ihr. Jeden Tag fragte sie sich voller Bangen, wann wohl der Morgen kam, an dem sie irgendwo unter einem Gebüsch oder einer Ruine erwachte und nicht mehr die Energie aufbrachte, um aufzustehen und ihre
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