Wildes Herz
von Emily und Bridget nicht viel ein. Selten einmal fiel eine Münze in die Teller, die Éanna und Caitlin den Bewohnern hinhielten. Manchmal hatten sie am Schluss nur ein paar Brocken Brot oder einige Löffel voll Haferflocken gewonnen. Die Leute hatten selbst nicht genug.
Die neunte Nacht verbrachten sie in einem der Geisterdörfer, deren Einwohner Opfer der Massenräumungen geworden waren. Ein Haus nach dem anderen stach mit seinem abgedeckten Dach, dem eingestürzten Giebelkamin und den Trümmern halb eingerissener Hauswände wie erstarrte Skelette in den klaren und kalten Nachthimmel.
In einem der am wenigsten zerstörten Häuser suchten sie Unterschlupf, kochten sich Suppe aus Nesseln, die sie am Wegesrand gefunden hatten, und löffelten die wässrige Brühe aus ihren Holzschalen.
»Wir hätten damals nach Amerika auswandern sollen, als wir noch unser Auskommen und sogar noch ein Schwein und eine Kuh hatten«, sagte Emily versonnen, nachdem sie ihren Teller sorgfältig abgeleckt hatte. »Damals wäre es noch gegangen. Andere aus unserem Dorf hatten es schon gewagt.«
Bridget seufzte verträumt. »Ja, Amerika oder Kanada. Aber besser noch Amerika, da soll es schon viele Iren geben.«
»Es heißt, dort ist jeder sein eigener Herr und kann sich so viel fruchtbare Erde nehmen, wie er nur will. Es gibt unendlich viel davon«, fuhr Emily begeistert in ihrer Träumerei fort. »Wenn man nur hart zu arbeiten gewillt ist, kann dort jeder sein Glück machen. Die Engländer haben nichts mehr zu sagen!«
Éanna ließ sich von Emilys und Bridgets Träumereien anstecken. »Wenn es auch nur halb so schön und man da nur halb so frei wäre, wie man es sich erzählt, muss es ein herrliches Land sein!«
»Man bräuchte Flügel, die einen über den Ozean brächten«, sagte Bridget mit einem schweren Seufzer. »Denn sonst wüsste ich nicht, wie einer von uns nach Amerika kommen sollte.«
»Ich komme nach Amerika!«, erklärte Emily entschlossen. Caitlin lachte spöttisch auf. Sie hatte sich zurückgehalten. »So? Was du nicht sagst! Weißt du denn überhaupt, was so eine Passage nach Amerika im Zwischendeck solch eines Auswandererschiffes kostet?«
Emily zuckte die Achseln. »Lass es kosten, was es will. Andere haben es auch geschafft. Irgendwie und irgendwann kriege ich das Geld schon zusammen.«
»Ich sag es dir«, fuhr Caitlin fort. »Die billigsten Tickets im Zwischendeck kosten drei Pfund und zehn Shilling. Damit darfst du dann auf einen stinkenden wasserziehenden Kahn der Engländer, auf dem du noch schlechtere Chancen hast, am Leben zu bleiben, als hier. Fünf Pfund sind der normale Preis für einen Yankeesegler. Und auch dann ist die Überfahrt noch alles andere als eine gemütliche Segelpartie übers Meer, darauf kannst du dich verlassen.«
»Fünf Pfund?«, stieß Bridget erschrocken hervor. »Wir haben in der ganzen letzten Woche ja noch nicht einmal einen einzigen Shilling zusammengebettelt!«
»Aber das ist noch nicht alles«, fuhr Caitlin fort, als wollte sie ihnen unbedingt noch die allerletzten Illusionen zerstören. »Man braucht nämlich zusätzlich noch einen hübschen Batzen Geld, weil die Verpflegung an Bord dieser Schiffe so miserabel ist, dass sich die Kapitäne mit den Betreibern dieser elenden Suppenküchen fast die Hand zur Bruderschaft reichen könnten. Deshalb muss man selbst dafür sorgen, dass man auf der Überfahrt nicht verhungert und zu Fischfutter wird!«
Fast hasste Éanna sie in diesem Augenblick dafür, dass sie ihnen mit ihren nüchternen, fast gehässigen Vorhaltungen die Freude am Träumen verdorben hatte.
»Und wennschon«, erwiderte Emily trotzig. »Ich komme nach Amerika, darauf könnt ihr Gift nehmen! Ich werde hier nicht verrotten, irgendwo als Frau eines Kleinpächters mein Leben fristen und jedes Jahr aufs Neue Angst davor haben, dass die Kartoffeln wieder einmal schwarz und verfault aus der Erde kommen.«
Caitlin verzog das Gesicht. »Das redet sich so leicht daher. Aber würdest du uns vielleicht verraten, wie du an so viel Geld kommen willst, wo wir doch Tag für Tag Mühe haben, nicht an Hunger zu krepieren?«, fragte sie.
»Ich würde alles dafür tun, damit ich auf so ein Schiff und nach Amerika komme!« Emily hatte die Augenbrauen zornig zusammengezogen.
»Alles?«, hakte Caitlin nach.
Emily hielt ihrem anzüglich fragenden Blick stand. »Ja, alles«, bekräftigte sie.
»Auch …«, setzte Éanna zu einer Frage an, stockte jedoch sofort und führte den Satz
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