Wildes Herz
Selbst wenn ich einmal eines kurz betreten und mich dort umschauen dürfte, selbst dann wüsste ich noch immer nicht, wie es dort zugeht. Dem werdet Ihr mir doch gewiss zustimmen, nicht wahr?«
»Mhm«, machte Patrick O’Brien. Seine Stimme und Miene verrieten seine Ungeduld. »Ja, damit dürftest du zweifellos recht haben. Nur weiß ich beim besten Willen nicht, was das mit dem Inhalt deines Telegramms zu tun haben soll, insbesondere mit dem Versprechen, für deine Rettung mit deinem Leben bezahlen zu wollen?«
Éanna wagte ein zaghaftes Lächeln. »Es hat sehr viel damit zu tun, Mr O’Brien«, versicherte sie. »Denn habt Ihr mir nicht damals, als ich Euch kurz vor Carlow auf der Landstraße wiedergetroffen habe, davon erzählt, dass Ihr Schriftsteller werden wollt? Und dass Ihr dafür alles in Euer Notizbuch aufschreibt, was Ihr bei Euren Fahrten durch Irland seht und erlebt?«
»Sicher, das tue ich, und ich hoffe, dass mein Vorhaben auch bald gelingt«, erwiderte Patrick O’Brien. »Auch wenn ich zugeben muss, dass ich diesen Stoff über die Hungersnot in unserem Land nur schwer in den Griff bekomme. Aber ich begreife noch immer nicht, worauf du hinauswillst.«
Sie zögerte kurz. Was sie ihm nun sagen musste, würde ihm womöglich gar nicht gefallen. Sie fürchtete, ihm mit ihren nächsten Worten das Gefühl zu geben, von ihr getäuscht worden zu sein. Doch sie musste es aussprechen, denn sie hatte ihm nichts anderes zu bieten.
»Ich will darauf hinaus, dass es niemals ein gutes, geschweige denn wahres Buch werden wird«, sagte sie ihm geradeheraus ins Gesicht. »Auch wenn Ihr noch so brillant mit Worten umgehen könnt, was ich nicht bezweifle, dann fehlt euch doch etwas ganz Entscheidendes. So wie ich vor den Auslagen der Geschäfte und den wunderschönen Häusern stehe und nur die Fassade sehe, so könnte auch Ihr nur von außen auf das blicken, was die Hungersnot angerichtet und aus uns gemacht hat. Ihr wollt etwas beschreiben, was Ihr überhaupt nicht kennt und was Ihr nicht versteht. So wie ich Euer Leben nicht kenne und nicht verstehe.«
Ein schockierter Ausdruck trat auf sein Gesicht, und er wollte zu einer Erwiderung ansetzen, doch Éanna hob die Hand. Sie war noch nicht fertig. »Was wisst Ihr, was es bedeutet, wenn einem das Dach über dem Kopf eingerissen und man aus seinem Heim vertrieben wird? Wenn man auf der Straße und von der Straße lebt? Wenn man hilflos zusehen muss, wie die Eltern und Geschwister elendig an Hunger und Fieber zugrunde gehen? Wenn man in Erdlöchern hausen muss? Wenn man bei Wind und Wetter für einen Hungerlohn im Steinbruch schuften muss? Wenn man vor Hunger fast wahnsinnig wird? Wenn man so verzweifelt und am Ende ist, dass man um Aufnahme in einem so entsetzlichen Ort wie das Arbeitshaus bettelt? Was also wisst Ihr, der Ihr bestimmt noch nie am eigenen Leib erlebt habt, was Hunger und Kälte und Hoffnungslosigkeit bedeuten, was wisst Ihr über uns und unser Elend, dass Ihr meint, ein Buch darüber schreiben zu können?« Sie rang nach Atem. Die letzten Fragen hatte sie nur noch hervorgestoßen.
Verblüffung und fast so etwas wie Betroffenheit vertrieben den schockierten Ausdruck von seinem Gesicht. Lange Zeit sagte er nichts, sondern sah nur aus dem Fenster auf die vorbeifliegende Landschaft. Endlich wandte er ihr wieder seinen Blick zu.
»Nicht, dass es mir gefällt, was du mir da an den Kopf wirfst«, sagte er nachdenklich. »Aber ich muss gestehen, dass an deinen Vorhaltungen leider viel Wahres dran ist. Und wer weiß, vielleicht ist das genau der Grund, warum ich nicht mit meinem Manuskript vorankomme.«
Éanna fiel ein Stein vom Herzen. Sie hatte mit ihrer Einschätzung über Patrick O’Brien recht behalten. »Ich habe Euch im Telegramm versprochen, für meine Rettung mit meinem Leben zu bezahlen, Mr O’Brien. Ihr könnt es haben, wie wenig es auch wert sein mag.«
Nun begriff er, und seine Augen blitzten begeistert auf. »Du bietest mir die Geschichte deines Lebens an, richtig? Und bist du auch wirklich gewillt, mir darüber ausführlich Rede und Antwort zu stehen und mir alles geduldig zu erzählen?«
»Nicht nur die Geschichte meines Lebens, Mr O’Brien. Ich werde Euch alles erzählen, was Ihr wissen wollt. Das verspreche ich Euch bei allem, was mir heilig ist«, sagte sie feierlich. »Wie unser Leben früher in Galway war, wie die Hungersnot über uns gekommen ist und alles, was danach geschehen ist. Mehr habe ich Euch nicht zu bieten, Mr
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