Wildes Herz
mir mit deinem Telegramm zugemutet hast. Falls du nichts dagegen hast?«
Das Blut schoss ihr vor Verlegenheit ins Gesicht. »Ich weiß, es war unverschämt und unverzeihlich von mir, Euch damit zu belästigen und Euch zu bitten, mir und meinen Freundinnen zu helfen«, gestand sie und senkte den Blick. »Ihr habt schon so viel Gutes für mich getan. Aber ich war verzweifelt und wusste mir einfach nicht anders zu helfen.«
»Nun, unverschämt und unverzeihlich würde ich dein Telegramm an mich nicht gerade nennen«, erwiderte O’Brien in seinem munteren Plauderton, der Éanna schon bei ihrer ersten Begegnung in Ballinasloe so verwirrt hatte. »Mir sind dabei vielmehr die Worte ›einfallsreich‹ und ›verwegen‹ in den Sinn gekommen. Wobei ich jedoch gestehen muss, dass andere an meiner Stelle wohl zu einer etwas weniger freundlichen Einschätzung gekommen wären. Denn wer die Sicherheit des Vertrauten und die strengen Regeln seines Standes über alles schätzt und sich nicht von den ungewissen Gewässern des Fremden locken lässt, dem dürfte wohl zu deinem Telegramm das Wort ›unverfroren‹ eingefallen sein.«
Éannas Gesicht brannte nun wie Feuer. »Und das war es ja wohl auch«, murmelte sie.
»Und zu deinem Glück, wie ich wohl sagen darf! Denn andernfalls wäre ich kaum so neugierig gewesen, mich deiner Sache unverzüglich anzunehmen und ihr auf den Grund zu gehen.« Er grinste. »Und damit wären wir nun beim eigentlichen Thema: Denn da gibt es schon noch einige Fragen, auf die doch ganz gern eine Antwort von dir hätte.«
»Wenn Ihr damit das schrecklich viele Geld meint, das Ihr für mich und meine Freundin habt ausgeben müssen …«, begann Éanna mit belegter Stimme und hob den Kopf.
»Ich meine erst einmal etwas ganz anderes«, fiel Patrick O’Brien ihr ins Wort und zog dabei das Telegramm aus dem Buch. Er faltete es auseinander und warf einen Blick auf den kurzen Text, obwohl er ihn zweifellos längst auswendig kannte. Und dann las er ihn laut vor, als wollte er ihr noch einmal in Erinnerung rufen, was sie ihm hatte telegrafieren lassen.
» Nach Flucht aus Arbeitshaus gefasst + stop + Auf Wache in Ballymore Eustace + stop + Rettet mich vor Gefängnis + stop + Bezahle mit meinem Leben + stop + Éanna Sullivan .
Er ließ das Telegramm sinken und sah sie mit dem ihm eigenen spöttischen Lächeln an. »Ich muss sagen, dass mich die ersten drei Sätze nicht ganz unberührt gelassen haben. Doch ich bin mir sehr im Zweifel, ob ich mich gestern wirklich in großer Eile auf den Weg nach Ballymore Eustace gemacht hätte, wenn es diesen letzten mysteriösen, ja geradezu paradoxen Satz ›Bezahle mit meinem Leben‹ in dem Telegramm nicht gegeben hätte. Und nun hoffe ich, dass deine Erklärung, was du damit meinst, nicht allzu enttäuschend für mich ausfällt!«
Éanna war auf diese Frage vorbereitet. Sie hatte Zeit genug gehabt, sich Gedanken zu machen, was sie ihm darauf antworten sollte. Nun straffte sie die Schultern und holte tief Luft. »Meine Mutter und ich sind im September letzten Jahres von unserem Pachtland vertrieben worden«, begann sie zögernd. »Bis dahin habe ich nur unser Dorf und seine nähere Umgebung gekannt. Wie es in einer Stadt zugeht und wie richtige Häuser und Geschäfte aussehen, habe ich mir nie so richtig vorstellen können.«
Patrick O’Brien musterte sie irritiert. »Ach ja?«, fragte er, und Éanna sah ihm an, dass er sich keinen Reim aus ihren Worten machen konnte. Doch sie ließ sich nicht beirren.
»In den letzten Monaten bin ich auf der Suche nach Arbeit und etwas Essen durch mehrere größere Städte gekommen«, fuhr sie hastig fort. »Dort habe ich vor Geschäften gestanden und die Auslagen bewundert, ohne die meisten Sachen jedoch benennen zu können, die ich gesehen habe. Vieles war mir so fremd, dass ich gar nicht wusste, was ihr Sinn und Zweck war.«
Patrick O’Brien legte die Stirn in Falten, und seine Finger trommelte ungeduldig auf dem Buch. Doch diesmal unterbrach er sie nicht.
»Manchmal bin ich auch vor besonders schönen Häusern stehen geblieben und habe versucht, mir vorzustellen, was sich wohl hinter den Fenstervorhängen verbirgt. Wie die Räume aussehen und was ihre Bewohner dort tun und wie sie leben.« Éanna hielt einen Moment lang inne. »All diese Vorstellungen – meine Bilder im Kopf –, nun, sie dürften größtenteils falsch sein. Denn ich habe nicht die geringste Ahnung von all dem, weil ich noch nie in solch einem Haus war.
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