Wildes Herz
kommen wir so schnell nicht wieder.«
»Ich kann nicht«, wehrte Éanna gequält ab und vergrub den Kopf in ihren Händen.
Caitlin schlürfte den heißen Tee so laut, dass niemand die Schritte weicher Stadtschuhe hörte, die plötzlich über den Gang kamen. Erst als jemand vor dem Zellengitter stehen blieb, setzte das Mädchen ihre Tasse ab. Plötzlich hätte man eine Nadel fallen hören können.
»Oh mein Gott!«, entfuhr es Emily fassungslos. Dann stieß sie Éanna an und raunte erregt: »Sag bloß, das ist er?«
Éanna hob den Kopf und riss die Augen auf. Ihr war, als träfe sie ein Blitz, der von einer Sekunde auf die andere alle Qual und Verzweiflung und Selbstvorwürfe in ihr auslöschte und sie mit einem Gefühl unbeschreiblicher Erleichterung erfüllte.
Es war Patrick O’Brien, der auf der anderen Seite des Zellengitters stand! Er hatte sich seinen Spazierstock mit dem Silberknauf sowie ein paar hellbraune Lederhandschuhe unter die linke Achsel geklemmt und hielt ein Telegramm in der Rechten. Eine sanft gewellte Locke seines vollen schwarzen Haars fiel ihm in die Stirn, und sein Gesicht war sichtlich vor Kälte gerötet.
Er hob leicht die Augenbrauen, warf einen kurzen Blick auf das Telegramm in seiner Hand, schaute dann Éanna an und fragte mit einem spöttischen Lächeln auf den Lippen: »Entschuldigt die Störung. Aber bin ich hier richtig bei einer gewissen Éanna Sullivan, die für ihre Rettung vor dem Gefängnis mit ihrem Leben bezahlen will?«
Vierunddreißigstes Kapitel
Eine Hand rüttelte sie sanft an der Schulter, und Éanna erwachte aus ihrem wirren Traum. Sie schlug die Augen auf und blickte mit schläfriger Benommenheit in das Gesicht von Patrick O’Brien.
Éannas bewusste Wahrnehmung setzte erst mit ein, zwei Sekunden Verzögerung ein. Dann jedoch riefen ihr das Rattern und Rütteln, das Knirschen der eisenbeschlagenen Räder über dem Geröll der Landstraße, der trommelnde Hufschlag eines Vierergespanns edler Pferde und die kehligen Rufe des Kutschers jäh in Erinnerung, dass sie sich auf dem Weg nach Dublin befand. Und zwar in der herrlich gepolsterten Kutsche von Mr Patrick O’Brien!
Emily und Caitlin war diese Bequemlichkeit nicht vergönnt. Ihnen hatte er bei ihrem Aufbruch Plätze auf dem Kutschbock zugewiesen, wenn sie auch mit Decken gegen den eisigen Fahrtwind gut versorgt waren. Sie, Éanna, hatte er dagegen mit dem Hinweis, dass sie ja wohl noch einiges zu klären hätten, aufgefordert, zu ihm in die Kutsche zu steigen. Und das hatten sie in der Tat.
Dass Patrick O’Brien das Telegramm nicht nur erhalten, sondern sich tatsächlich sofort zu ihnen auf den Weg nach Ballymore Eustace gemacht und seinen Kutscher dabei zu größter Eile angetrieben hatte, kam Éanna auch jetzt noch wie ein Wunder vor. Und er hatte es nicht allein dabei belassen, auf der Wache die Strafe für sie drei zu begleichen und dem Konstabler Doherty die Kosten für das Telegramm mit einem großzügigen Aufschlag zu ersetzen.
Nein, Patrick O’Brien hatte ihnen auch noch in einem nahen Gasthof ein Quartier für die Nacht bezahlt. Zudem hatte er seinem Kutscher am Morgen Geld gegeben und sie mit ihm zum nächsten Pfandleiher geschickt, damit sie sich dort jede eines der besseren Kleider sowie einen warmen Umhang, Schal und Mütze aussuchen konnten. Und nun brachte er sie mit seiner Kutsche sogar nach Dublin.
Éanna fuhr sich über die Augen und setzte sich auf der Polsterbank auf. »Entschuldigt, ich muss wohl kurz eingeschlafen sein«, sagte sie verlegen.
»Kurz.« Patrick O’Brien lachte belustigt auf. Er saß ihr gegenüber auf der Rückbank, die Beine lässig übereinandergeschlagen. Er hielt ein Buch in den Händen, das in helles Leder gebunden und mit farbig marmorierten Deckeln versehen war. Aus den Seiten ragte ein Stück des Telegramms heraus, wohl als Lesezeichen. »Ich weiß zwar nicht, was für dich kurz ist, aber du hast fast die ganze Fahrtstrecke nach Dublin verschlafen, Éanna Sullivan«, sagte er spöttisch.
Ungläubig sah Éanna ihn an. »Was? Ich habe die ganze Zeit geschlafen? Das kann nicht sein!«, entfuhr es ihr.
»Tja, glaub mir mal. Es ist keine halbe Stunde mehr bis in die Stadt. Du scheinst wirklich sehr erschöpft gewesen zu sein, dass dich das Gerüttel auf der schlechten Straße nicht aus dem Schlaf geholt hat.« Er zwinkerte ihr zu. »Ich hätte dich weiterschlafen lassen, wenn es denn nicht allmählich an der Zeit wäre, dass wir uns über das unterhalten, was du
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