Wildes Herz
Hexe.
Ihn überlief ein Schauer. Ty war nicht abergläubisch, aber lieber glaubte er, Janna sei eine Hexe, als darüber nachzudenken, mit welchen Mitteln eine großherzige und sanfte Person wie sie allein und auf sich gestellt in diesem Land überlebt hatte.
Auf Zebras Rücken durchstreifte er das Gelände in der Richtung, wo die Fußspuren verschwunden waren. Er entdeckte eine schmale Felszunge, die von rechts kam. Die Zehenabdrücke der letzten Fußspur waren tiefer ausgeprägt, als hätte Janna sich auf dem feuchten Untergrund abgedrückt, um auf die Steine zu springen. Zebra beschnupperte die Felszunge eine Weile und drehte sich zu Ty. Und was jetzt, schien die Stute zu fragen.
„Gute Frage“, murmelte er.
Der Felsausläufer führte hinauf zu einem zerklüfteten schmalen Grat, der nur aus nacktem Gestein bestand. Janna war eine geübte Kletterin und schaffte den Weg hinauf vielleicht, aber für ein Wildpferd mit Reiter würde der Aufstieg mörderisch sein.
Spuren waren nicht die einzige Möglichkeit, das gesuchte Wild zu finden. Als guter Jäger hatte Ty diese Lektion vor langen Jahren gelernt. Besser war, man kannte das Ziel. Er hatte das Entsetzen und die Angst in Jannas Gesicht gesehen, bei der Vorstellung, Lucifer könnte mit einem Gewehr zur Strecke gebracht werden. Sie würde versuchen, auf kürzestem Weg zu dem Hengst zu gelangen. Das zu erahnen, brauchte Ty keine hellseherischen Fähigkeiten. Leider machte das vor ihm liegende Gelände nirgends den Eindruck, als wäre es für Menschen begehbar, noch weniger für ein Pferd. Er schwang sich von Zebras Rücken und hockte sich hin. Doch ehe er sich versah, stob die Stute davon.
Verdammt, dachte er, aber ich muss erst einmal Janna finden. Zebra ist nicht so wichtig.
Er erinnerte sich an Jannas Worte: Ich kenne jede Wasserstelle, jedes Versteck in den Büschen und jeden Platz, an dem saftiges, fettes Gras wächst.
Reglos verharrend, blickte er auf das vor ihm liegende Land. Er war nicht aus purem Zufall auf Jannas Spuren gestoßen. Das war nicht einfach Glück gewesen. Trotz der Weite bot die Landschaft nur wenig Raum, wo Mensch und Tier sich ungehindert bewegen konnten. Steil aufragende Felswände, tiefe Schluchten und der zerklüftete, felsige Boden schränkten die Bewegungsfreiheit ein. Es blieben nur die breiten Trockenbetten der Flüsse zwischen dem Black Plateau und den Tafelbergen, oder man musste das gesamte Hochland auf gewundenen Pfaden umgehen. Rotwild, Mustangs, Indianer, Vieh und Viehhirten, sie alle mussten sich mehr oder weniger an die gleichen, von der Natur bestimmten Wege halten.
Verstecke waren eine andere Sache. Das Land bot Tausende von Möglichkeiten, wo ein Mensch sich verbergen konnte. Aber jedes Kaninchen musste sein Loch irgendwann verlassen, um an Wasser und Futter zu kommen oder um sich einen besseren Unterschlupf zu suchen.
Für Janna galt das Gleiche.
Sie biss sich auf die Lippe und zog den Hut tiefer über ihr rotbraunes Haar, damit die Farbe sie nicht verriet. Für den Fall, dass sie Durst bekam, hatte sie ihre Feldflasche. Der Hunger machte ihr Sorgen. Ihr Magen erinnerte sie ständig, dass die Zeit für Frühstück und Mittagessen längst vorbei war.
Trotzdem war nicht der Hunger, sondern Ty ihr größtes Problem. Er hockte kaum einen halben Kilometer entfernt auf einem Felsvorsprung, von dem er das Gelände weiträumig überblicken konnte. Eine knorrige, in einer Felsspalte wurzelnde Pinonkiefer bot ihm einen
gewissen Sichtschutz. Janna war die kurze Bewegung aufgefallen, als er zu seinem Beobachtungsposten hochkletterte. Sonst hätte sie ihn nie rechtzeitig erspäht, um in Deckung zu gehen, bevor er sie sah.
Jetzt saß sie in der Falle. Den einzigen Pfad, der an der Ostseite zum Black Plateau hinaufführte, konnte sie nur über karge Felsen erreichen. In dem Augenblick, in dem sie aus ihrem Versteck trat, würde Ty sich auf sie stürzen wie ein hungriger Kojote, der ein Kaninchen fing.
Warum bist du nicht mit Zebra auf das Plateau geritten, fragte sie ihn im Stillen. Warum hast du sie laufen lassen? Sie würde dich ebenso schnell zu Lucifer bringen, wie ich es könnte. Warum suchst du nicht diesen Hengst? Stattdessen sitzt du dort oben und hältst Ausschau nach mir.
Ihre Fragen blieben ohne Antwort. Vorsichtig veränderte sie ihre Haltung und drehte den Kopf gerade weit genug, um das Gelände zwischen sich und Ty einsehen zu können.
Er war noch immer da.
Normalerweise hätte Janna sich tiefer in ihr
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