Wildes Lied der Liebe
Virginia auf der Farm der McQuarrys gearbeitet hatte, solange Christy denken konnte.
Da sie inzwischen beinahe zwanzig Jahre alt war, reichte ihre Erinnerung schon eine ganze Weile zurück. »Er sieht zu gut aus und ist zu selbstsicher.«
Auf Caneys Gesicht zeigte sich ein strahlendes Lächeln, als sie beobachtete, wie der Mann absaß und dem älteren Armeeoffizier die Hand schüttelte, der nach draußen gegangen war, um den Neuankömmling zu begrüßen. »So, so«, sagte sie. Ihr Blick folgte dem Mann, der vor dem Fenster des bescheidenen Salons mit dem Colonel redete. Es gab nur ein einziges Haus in Fort Grant, falls man das fragliche Gebäude überhaupt so nennen wollte. Es gehörte dem kürzlich verwitweten Kommandeur der Garnison, Colonel Webley Royd, der sein Heim freundlicherweise den Frauen zur Verfügung gestellt hatte, die im vergangenen Oktober zusammen mit dem ersten Schnee in Fort Grant eingetroffen waren. »Ich finde, er ist eine Augenweide. Und ich mag Männer, die etwas auf sich halten.«
Auf dem Hemd des Fremden glänzte ein sternförmiges Abzeichen. Christy presste die Lippen zusammen und fragte sich, warum dieser Mann einen solchen Eindruck auf sie machte. Allein sein Anblick verwirrte sie gründlich. Wie mochte es wohl erst sein, mit ihm zu sprechen? Oder in seiner Begleitung zu reisen?
»Colonel Royd meinte, sein Name sei Zachary Shaw«, berichtete Megan eifrig, die neben Christy am Fenster Posten bezogen hatte. Da sie erst sechzehn war, durfte man von ihr natürlich weder gute Menschenkenntnis noch ein Übermaß an Urteilsvermögen erwarten. Megan hatte nichts als träumerische Flausen im Kopf, verfügte jedoch über einen scharfen Verstand. Christy hatte sich geschworen, dafür zu sorgen, dass Megan diese Gabe nicht an einen Mann und ein Dutzend schreiender Kinder verschwendete. »Er ist ein Marshal .«
Und er bedeutet Ärger, dachte Christy. Als wollte er ihre Vermutung bestätigen, schien Marshal Zachary Shaw in diesem Augenblick zu bemerken, dass er beobachtet wurde. Er wandte sich um, blickte Christy durch den dünnen Spitzenstoff der Gardine an und hielt ihren Blick mit dem seinen fest.
Verärgert und auf eine geradezu unanständige Weise erregt bedachte Christy ihn mit einem finsteren Blick, mit dem sie zu verbergen suchte, dass es ihr unmöglich war, sich vom Anblick des Marshals loszureißen, bevor er sich dazu entschloss, sie nicht mehr anzusehen.
Er lächelte und tippte sich an die Krempe seines zerknautschten Hutes. Christy spürte plötzlich Hitze in sich aufsteigen, die ihr Blut zu erwärmen schien und in ihren Wangen brannte.
»Na, da soll mich doch ...«, murmelte Caney kaum hörbar. Manchmal war Caney scharfsinniger, als es wünschenswert gewesen wäre.
Schließlich brachte Christy die Kraft auf, sich auf dem Absatz umzudrehen und vom Fenster zurückzutreten. »Völlig ausgeschlossen!«, fuhr sie auf und ging unruhig am Rand des handgeknüpften Läufers auf und ab. »Dieser Mann kommt überhaupt nicht infrage! Er ist überheblich und mit Sicherheit ein Tunichtgut. Wir müssen einen anderen Begleiter finden oder allein Weiterreisen.«
Megan betrachtete ihre Schwester mit Entsetzen. Mit ihren kastanienbraunen Haaren, der milchig zarten Haut und den strahlenden grünen Augen war Megan eine ausgesprochene Schönheit, wenn auch trotz ihres brillanten Verstandes noch sehr kindlich. Seit die Schwestern nach der skandalösen Scheidung ihrer Eltern seinerzeit Virginia hatten verlassen müssen, war ihnen das Schicksal alles andere als hold gewesen und hatte ihnen nichts als Verluste, Niederlagen und Demütigungen beschert. Doch nun würde Christy alles in ihrer Macht Stehende tun, damit sich das änderte.
»Christy!«, rief Megan. »Das kann doch nicht dein Ernst sein! Es liegen noch viele Meilen zwischen uns und Primrose Creek. Denk doch an die wilden Tiere, Banditen und kriegerischen Indianer ...«
Caney schüttelte den Kopf. »Du musst den Verstand verloren haben, wenn du glaubst, wir könnten ganz allein in die Berge ziehen«, erklärte sie. Auf dem Weg nach Westen hatte sie Christy oft gestattet, ihr bei der Versorgung der Kranken und Verletzten zu helfen. Einmal hatten sie sogar gemeinsam ein Baby entbunden. Caney war der Überzeugung, Christy verfüge über eine besondere Gabe, Kranke zu heilen, dennoch behandelte sie die jüngere Frau meistens wie ein Kind.
Auch Christy gefiel der Gedanke an die gefährliche Reise ganz und gar nicht. Doch für gewöhnlich brachte ihr
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