Wildhexe 1 - Die Feuerprobe
keine Wildhexe.« Als ich Tumpe auf Wildhexenart rufen sollte, also ohne etwas zu sagen und ohne dass er mich sehen konnte, hatte er sich nicht vom Fleck gerührt. Er war einfach auf seinem breiten schwarzbraunen Hinterteil unten am See sitzen geblieben, vollkommen vertieft in die Eicheln, die in regelmäßigen Abständen ins Wasser plumpsten. Er hatte nicht mal gewedelt. Und wir sprechen hier von Tumpe. Dem freundlichsten Hund der Welt.
Das alles, während Kahla gleichzeitig Saatkrähen auf Kommando kommen und wegfliegen ließ, als wären sie eine Art fliegender Fahrradkuriere, die sie einfach mit ihrem Wildhexentelefon anrufen konnte. »Krähe Nr. 4 von links, ja, du mit dem langen Schnabel, würdest du mal eben schnell bei mir vorbeischauen?« Es war zum Verrücktwerden. »Für Kahla ist alles so einfach!«
»Kahlas Eltern haben mit ihr Wildhexenspiele gespielt, seit sie drei Jahre alt war. Süße, das kannst du nicht in einer Woche aufholen.«
Stjerne versenkte ihr Maul im Heu und fing an zu kauen. Ich streichelte ihren wolligen Hals.
»Ja, aber wann? Wann darf ich denn wieder nach Hause?«
Ich vermisste meine Mutter und ich vermisste Oscar. Er hatte nicht mal eine SMS geschickt, obwohl er es versprochen hatte. Oder sie war nicht angekommen – wer konnte schon wissen, ob so was in Weitwegistan überhaupt funktionierte?
Isa sah mich an. »Bist du sehr unglücklich hier?«, fragte sie. »Findest du das alles nur noch schrecklich, oder hat die Sache auch etwas Gutes für dich?«
Darüber musste ich erst kurz nachdenken, denn bis eben war ich ja die meiste Zeit damit beschäftigt gewesen, alles dumm, gefährlich und nervig zu finden.
»Ich mag die Tiere«, sagte ich langsam. »Ich mag Stjerne und Tumpe. Und dich.«
»Gleichfalls, Clara-Schatz.«
»Wenn ich hier einfach nur Ferien machen würde«, sagte ich. »Wenn ich wüsste, dass ich in ein oder zwei Wochen zu Mama nach Hause könnte, oder … also, wenn ich das wenigstens wüsste. Und wenn diese ganze Sache mit dem Kater und Chimära nicht wäre …« Wahrscheinlich wäre es sogar spannend gewesen, Wildhexenkunststücke zu lernen, wenn es nicht so furchtbar schnell hätte gehen müssen. Wenn ich es endlich hingekriegt hätte. Und wenn Kahla netter gewesen wäre.
»Denk an das Gute«, sagte Tante Isa. »Das macht dir den Tag leichter.«
Ich versuchte es. Wirklich. Aber dem Tag war das egal. Er fing beschissen an – und dann ging er total in die Hose. Ehrlich, so sehr in die Hose, wie er überhaupt nur gehen konnte …
Es war schweinekalt und es regnete. Ich wurde schon neidisch auf Kahlas sieben oder acht Kleiderschichten, denn obwohl ich mir einen quietschgelben Regenhut von Tante Isa ausgeliehen und einen richtig dicken Pulli unter meine Jacke gezogen hatte, liefen mir immer wieder dicke, fette Regentropfen den Hals hinunter bis in den Kragen, und meine Zehen fühlten sich langsam an wie zwei Pakete Tiefkühlfleisch, die gerade erst aus dem Eisfach geholt worden waren.
Isa hatte uns Block und Bleistift gegeben, eingewickelt in eine Plastiktüte, damit sich das Papier nicht vollkommen auflöste. Damit sollten wir uns an den Weiher bei den Weiden setzen, lauschen und spüren , um dann jedes Tier aufzuschreiben, das wir im Umkreis von fünfzig Metern finden konnten. Kahla schrieb und schrieb. Auf meinem Zettel stand »zwei Enten«, »Amsel« und »Tumpe«, und dann schummelte ich und schrieb »Regenwurm«, obwohl das eigentlich nur geraten war. Danach saß ich nur noch da, kaute auf meinem Bleistift und fror. Die Zweige der Weiden raschelten im Wind, und der Regen bildete Ringe im schwarzen Wasser. Mein Blick fiel auf ein leeres Schneckenhaus zwischen den Binsen; ich war ziemlich sicher, dass die Schnecke, die früher dort gewohnt hatte, schon lange tot und verschwunden war, aber ich schrieb trotzdem »Schnecke« auf.
Mehr konnte ich nicht entdecken. Weder mit offenen noch mit geschlossenen Augen. Ich wusste, sie waren da – die Käfer unter der Baumrinde, die Fische, Frösche und anderen Wassertiere, die Maulwürfe, Mäuse und kleinen Vögel. Aber ich konnte sie nicht spüren.
»Wie läuft es?«, fragte Tante Isa.
»Super!«, sagte Kahla und schrieb weiter wie eine Wilde.
»Super …«, murmelte ich und schrieb »Käfer«, nur um etwas geschrieben zu haben. Wie viele Käferarten, hatte Tante Isa noch gesagt, gab es hier in der Gegend? Mindestens eine davon musste doch hier irgendwo in der Nähe sein. Gab es zu dieser Jahreszeit Kaulquappen?
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