Wildhexe 2 - Die Botschaft des Falken
Vestmark. Irgendwie hatte ich mir in den Kopf gesetzt, dass nur du mir helfen kannst, Vestmark zurückzubekommen.«
»Nicht ›irgendwie‹«, sagte Tante Isa. »Es war Chimära. Chimära hat alles dafür getan, dass du genau das glaubst. Und erst als sie sicher war, dass sie dich überzeugt hatte, hat sie dich freigelassen.«
»Mir hätte klar sein müssen, dass es zu leicht ging«, sagte Shanaia bitter. »Als ob Chimära ihre Beute jemals so einfach entkommen lassen würde …«
Ich ertappte mich dabei, dass ich mir die Katzenkratzernarben zwischen den Augen rieb. Vielleicht, weil ich mich in diesem Augenblick völlig zu Recht als Beutetier fühlte.
»Du meinst, … du bist ihr gar nicht entkommen? Sie hat dich absichtlich laufen lassen?«
»Ich dachte , ich sei ihr entkommen. Aber in Wahrheit hat sie mich benutzt wie ein Jäger seinen Jagdhund«, sagte Shanaia mit leiser Stimme. »Der Hund war nur nicht gut genug. Ich habe es nicht geschafft, dich zu überreden, mich nach Vestmark zu begleiten. Also musste sie sich einen besseren Köder besorgen. Und da … und da …« sie schnappte ein paarmal nach Luft, als würde es ihr körperliche Schmerzen bereiten, es auszusprechen – »da habe ich meine Freunde verraten.«
»Shanaia …« Tante Isa hob eine Hand, als wollte sie den Strom bitterer Selbstanklage stoppen.
»Nein. So ist es doch. Das habe ich getan. Du wärest nie … Sie hätte es nie geschafft … wenn ich nicht gewesen wäre.«
»Sie hatte deinen Wildfreund gefangen«, sagte Tante Isa. »Natürlich bist du zu ihr gegangen.«
»Ich hätte das nicht tun dürfen.«
»Wäre es Tu-Tu gewesen …«, sagte Tante Isa. »Ich hätte genauso gehandelt.«
»Nein, hättest du nicht. Du bist klüger und stärker. Du verrätst niemanden. Du erzählst nicht … erzählst nicht, wo deine Freunde am verwundbarsten sind. Wie man sie am besten ködern kann.«
Ihr Blick fiel auf Oscar.
»Hast du etwa …?« Ich wusste nicht, wie ich den Satz beenden sollte. »Hast du Chimära erzählt, dass Oscar und ich …?«
Shanaia nickte gequält. »Und dann …« Ihre Stimme war kaum mehr zu hören. »Dann … hat sie Elfrida trotzdem umgebracht. Zur Strafe. Weil ich kein guter Hund gewesen bin.«
Elfrida. So hieß das Frettchen. Ich dachte an den kleinen, steifen Körper in der Pappschachtel zu Hause bei Tante Isa. Arme Elfrida. Arme Shanaia.
Sie hatte sich aufgesetzt, die Knie ganz dicht an die Brust gezogen. So sah sie viel kleiner und jünger aus als sonst. Es gab tatsächlich Momente, in denen ich darüber nachgedacht hatte, ob Shanaia vielleicht doch recht hatte und sich Chimära aus irgendeinem seltsamen Grund wirklich vor mir fürchtete. Aber so war es natürlich nicht. Meine kleine Hoffnung fiel in sich zusammen und löste sich auf. Chimära hatte nie Angst vor mir gehabt. Das war nicht der Grund, warum sie sich ferngehalten hatte. Sie war weggeblieben, weil sie wusste, dass sie genau den richtigen Köder hatte und dass die kleine dumme Clara ihr ganz brav in die Falle tappen würde, wenn sie sich nur zurückhielt.
»Ich habe mir so gewünscht, du würdest nicht kommen«, sagte Shanaia. »Aber du hast es doch getan.«
»Ja.« Dabei fiel mir etwas ein. »Hast du ›Hau ab‹ gesagt?«
»Was meinst du?«
»Da war ein Turmfalke …« Ich erzählte von dem Vogel und von den Stimmen, die Nichts gehört hatte.
»Das weiß ich nicht«, sagte Shanaia. »Ich … habe es mir nur gewünscht.«
»Vielleicht hat das schon gereicht«, sagte Tante Isa. »Du bist ein Teil von Vestmark. Wenn du dir etwas stark genug wünschst – dann kann Vestmark das vielleicht spüren.«
Shanaia senkte den Kopf. »Das ist egal«, sagte sie. »Es hat ja nicht gewirkt.«
Jetzt gab es eigentlich nur noch eine große Frage.
»Warum?«, sagte ich. »Was will sie von mir?«
»Lies das Buch«, sagte Chimära.
Mir blieb das Herz stehen. Also wirklich. Es kam wieder in Gang, aber für einen panischen Augenblick setzte es aus. Ich schaute mich hektisch um, aber ich konnte niemanden sehen außer uns – Oscar, Tante Isa, Shanaia und mich selbst. Keine Vogelfrau mit Riesenflügeln.
Und trotzdem war es ihre Stimme gewesen. Ich war mir ganz sicher.
»Wo bist du?«, fragte Tante Isa. »Chimära, du brichst das Gesetz. Lass uns frei.«
Ich glaube nicht, dass Tante Isa ernsthaft damit rechnete, dass Chimära sich um irgendwelche Gesetze scherte. Sie wollte sie nur dazu bringen weiterzureden, damit wir hören konnten, woher ihre Stimme
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