Wildhexe 2 - Die Botschaft des Falken
tun?«
»Wieso sollten sie dich nicht beißen?«, fragte Oscar. »Ich glaube nicht, dass sie da große Unterschiede machen. Die fressen alles und jeden.«
»Schon, aber …« Ich fing an zu erklären, was bei den Wildhunden geschehen war. Oder besser gesagt, was nicht geschehen war. »Es war, als wollten sie meine Haut lieber … nicht verletzen.«
Tante Isa betrachtete mich eine Weile schweigend.
»Irgendetwas ist mit dir«, sagte sie. »Sonst wäre es Chimära ja nicht so wichtig, dich herzulotsen. Wenn du es irgendwie schaffen kannst – dann flieh. Sieh zu, dass du hier wegkommst. Geh zu den Rabenmüttern und erzähl ihnen, dass wir hier sind und dass … dass sie etwas unternehmen müssen. Chimära ist mehr als nur eine Wildhexe, die zu weit gegangen ist. Wenn ich mir ansehe, was sie hier gemacht hat, mit Sklaventieren und Chimären und …« Sie schaute zu der immer noch bewusstlosen Nichts. »Wir müssen sie aufhalten. Sonst ist nicht nur Vestmark in Gefahr, sondern die ganze wilde Welt. Erzähl ihnen das!«
»Und beeil dich«, sagte Oscar ziemlich nervös. »Sie hat vorhin erwähnt, dass die Haifischvögel langsam Hunger bekommen …«
18 WACHHUND
Bist du wirklich sicher?«, fragte Tante Isa. »Wir helfen dir natürlich, falls du dich geirrt hast und sie dich doch angreifen. Aber es könnte trotzdem gefährlich werden.«
»Jetzt ist es auch gefährlich«, sagte ich. »Kann ja sein, dass es sich weniger gefährlich anfühlt , hier im Wohnzimmer zu sitzen und zu warten, aber das ist es nicht.« Ich wünschte mir nur, Kater wäre da gewesen. Dann hätte ich weniger Angst gehabt. Kater war immer gut darin, mir Mut zu machen.
Tante Isa lächelte mich auf eine sehr Tante-Isa-artige Weise an. Sie nahm mein Gesicht in ihre Hände und gab mir einen schnellen Kuss auf die Stirn.
»Du wächst, Clara«, sagte sie. »Das ist schön zu sehen.«
Oscar sah tatsächlich auch ein bisschen überrascht aus, aber er sagte nichts.
Ich holte tief Luft. Ich hatte das Gefühl, noch kurz auf der Stelle laufen und ein paar Liegestütze machen zu müssen. Ich meine, vor einer schwierigen Sportprüfung wärmt man sich schließlich auch auf, oder nicht? Und das hier war viel schwieriger.
Ich öffnete die Tür zum Treppenabsatz. Draußen war alles ruhig, genau wie vorhin, nur ein bisschen dunkler, fand ich. Vielleicht war der Himmel draußen bewölkter. Oder vielleicht bildete ich es mir auch nur ein. Ich spürte die Schwestern eher, als dass ich sie sehen konnte. Dieses stille, reglose Warten, das kein Schlaf war.
Vor nicht mal einer Stunde bist du an ihnen vorbeigegangen, sagte ich mir selbst. Da haben sie keinen Muskel gerührt. Du kannst jetzt auch an ihnen vorbeigehen. Denk an die Möwen. Denk an die Wildhunde – und besonders an Fetzenohr. Aus irgendeinem Grund lassen sie dich in Ruhe, oder … sie beißen zumindest nicht.
Ich machte den ersten Schritt. Ich hätte rennen können, aber das hielt ich für eine schlechte Idee – will man sich beispielsweise an einem Wachhund vorbeischleichen, ist es mehr als dämlich loszurennen, weil er einem dann automatisch hinterherrast. Also machte ich einen Schritt, zwei Schritte in Richtung Treppe.
Es klang beinahe wie Rasseln. Ich schaute hoch. Ein paar der Schwestern, die mir am nächsten saßen, streckten die Flügel aus, und zum ersten Mal sah ich ihre Köpfe.
Vielleicht war es gut, dass ich sie nicht schon vorher gesehen hatte, denn ich bin mir nicht sicher, ob ich mich dann noch vor die Tür gewagt hätte. Sie hatten keine Schnäbel – so weit ähnelten sie Nichts noch ein bisschen. Aber anstelle eines kleinen, verzagten Mädchengesichts hatten sie … fast nur einen riesigen Mund. Ihre Augen waren nichts als kleine schwarze Punkte zwischen den Federn, und dann war da dieses Haimaul voller spitzer dreieckiger Zähne, und nicht nur eine Zahnreihe, sondern zwei oder drei.
Ich blieb stehen. Das war eigentlich nicht Sinn der Sache. Absolut nicht Sinn der Sache.
Komm schon, sagte ich leise zu mir selbst. Weiter. Okay, sie schauen dich an. Davon stirbst du nicht. Geh einfach …
Ich machte noch ein paar Schritte, unwillkürlich ein bisschen schneller. Ich war jetzt fast an der Treppe. Man kann nicht behaupten, ich sei gerannt, nicht ganz, aber es war auch kein entspanntes Schlendern mehr.
Sobald ich einen Fuß auf die erste Treppenstufe setzte, wurde ein Brausen laut. Ich konnte gerade noch hochschauen. Mit einem Schlag war das ganze Treppenhaus lebendig geworden. Ein
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