Wildhexe 2 - Die Botschaft des Falken
kam.
»Lies das Buch. Dann werde ich euch freilassen.«
Ich drehte mich um und starrte Nichts an. Sie saß auf der Armlehne des Sessels und krallte ihre Klauenfinger in den Stoff, um das Gleichgewicht zu halten. Ihr Blick war leer.
»Welches Buch?«, fragte ich, um mit dieser Stimme ganz sicherzugehen.
»Nichts weiß es«, sagte Chimäras Stimme. Aber sie kam aus Nichts’ Mund. »Finde es und lies es. Aber beeilt euch. Die Schwestern werden langsam hungrig.«
»Chimära«, sagte Tante Isa mit einem eisigen Zorn, der mir unwillkürlich einen kalten Schauer über den Rücken jagte. »Lass das arme Geschöpf in Ruhe und sprich selbst.«
Nichts blinzelte.
»Was …?«, sagte sie und nieste heftig. »Tschuldigung …«, murmelte sie, und dann fing sie plötzlich fürchterlich an zu schielen, kippte von der Armlehne und fiel mit einem gefiederten Plumps auf den Boden, schlaff und ohnmächtig.
Nichts lag rücklings auf dem Teppich, die Fingerfüße in die Luft gestreckt, die Augen geschlossen. Oscar betrachtete sie misstrauisch.
»Was ist das für ein Ding?«, fragte er. »Und warum klang seine Stimme plötzlich so anders?«
»Sie ist offenbar eine Art missglücktes Experiment«, sagte ich und war selbst überrascht, wie wütend ich klang. »Eine Chimäre, die nicht ganz so geraten ist, wie Chimära sie haben wollte. Und als ihr lästig wurde, dass Nichts ihr ständig nachlief, hat sie sie in einen Käfig gesteckt und einfach zurückgelassen.«
»Nichts?«
»So nennt sie es.« Ich verbesserte mich selbst. »Sie. Sie ist eine Sie, kein Es. Eine Person , kein Ding. Oder ein Nichts, was das betrifft.«
»Aber Chimära kann durch sie sprechen«, sagte Tante Isa nachdenklich. »Das heißt, sie hat einen Teil von sich selbst verwendet hat, als sie sie geschaffen hat.«
»Entschuldigung«, sagte Shanaia. »Aber sollten wir uns nicht eher für das interessieren, was sie gesagt, als dafür, wie sie es gesagt hat?«
»Glaubst du ernsthaft, Chimära lässt uns allesamt frei, wenn wir ihr ein bisschen vorlesen?«, fragte Oscar.
»Bücher können für Wildhexen von großer Bedeutung sein«, sagte Tante Isa. »Und für … eine andere Art Hexen möglicherweise sogar noch wichtiger. Eine Hexe wie Chimära.«
»Schon möglich, aber sie kann doch wohl selbst lesen und schreiben.«
»Ja.«
»Und wozu dann das ganze Tamtam um ein Buch, das sie hier schon rumstehen hat – womöglich seit Jahren?« Oscar sah skeptisch aus.
»Mit diesem Buch muss es etwas Besonderes auf sich haben«, sagte Tante Isa. »Shanaia, gibt es hier im Haus … spezielle Literatur?«
»Grimoires, schwarze Bücher und Claviculae? Isa, du kennst uns doch.« Shanaias Ausdruck änderte sich schlagartig. »Oder … kanntest. Inzwischen ist außer mir ja niemand mehr übrig. Aber mal abgesehen von meinem Urgroßvater Shaemas, der gewisse Tendenzen hatte, haben wir uns nie für solche Dinge interessiert. Schwarze Magie, Blutkunst und so. Wir sind Wildhexen in unserer Familie, sonst nichts. Oder. Wir waren.«
Shanaia wirkte schrecklich einsam und verloren. Ich konnte mich erinnern, dass sie mir ein kleines bisschen Angst gemacht hatte, als ich ihr zum ersten Mal begegnet war – die gefärbten Haare, das pechschwarze Augen-Make-up, die Nieten und nicht zuletzt Elfrida, die nicht unbedingt der schnuckeligste Wildfreund der Welt gewesen war. Aber all das Wilde und Punkige diente vielleicht nur dazu, sich selbst zu beweisen, dass sie stark war und auch ohne fremde Hilfe zurechtkam. Jetzt in diesem Moment sah sie jedenfalls weder wild noch gefährlich aus, nur sehr, sehr einsam.
»Was ist eigentlich mit deinen Eltern passiert?«, fragte ich.
»Sie sind gestorben«, antwortete Shanaia kurz angebunden.
Es war deutlich, dass sie nicht darüber reden wollte. Aber was, wenn es mit allem hier zusammenhing – mit Vestmark, Chimära und diesem mysteriösen Buch, für das sie sich offenbar so interessierte?
»Sie waren unterwegs zum Walpurgistreffen im Rabenkessel«, sagte Isa. »Shanaia war erst vier Jahre alt und zu klein, um ihre Eltern zu begleiten. Tatsächlich war ich es, die an diesem Abend auf sie aufgepasst hat. Wir wissen nicht genau, was damals passiert ist, nur dass … Shanaias Eltern sich aus irgendeinem Grund auf den wilden Wegen verlaufen haben. Wir fanden sie erst nach fünf Tagen, und da war es zu spät.« Sie sah mich an, und ein Schatten legte sich über ihr Gesicht. »Wenn man sich auf den wilden Wegen verlaufen hat, sind nicht nur Hunger und
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