Wildnis
Landschaft kann man nicht jeden Stein umdrehen. Als die Polizei abgezogen war, hat ein Pressefotograf den Vater entdeckt. Jemand hatte die Leiche auf die Ruine des Hauses gesetzt. Ekelhafte Bilder, Refford war schon seit ein paar Wochen im Reich der Geister und Würmer. Die Todesursache ließ sich nicht mehr verifizieren ...“
Michael verzog das Gesicht, blickte auf sein Glas, trank jedoch nicht. „Von der Tochter nie wieder eine Spur. Wilken ist mit all dem nicht zurechtgekommen. Er hätte sich gerne von dem Haus hier getrennt, hat aber keinen Käufer gefunden.“
Jenny hatte sich aufgerichtet. „Warum wolltest du unbedingt hierher? Das ist doch grässlich!“
„Weil es nirgends sonst in Alaska einen Ort gibt, der zugleich so malerisch und so einsam ist ... Und weil die Hütte billig zu haben war. Wilken wollte sie aus Prinzip nicht vermieten. Aber als er sich bereit erklärt hatte, konnte ich ihn gut runterhandeln. Ich habe ihm klargemacht, dass wir allen zeigen, dass das Tal nicht verhext ist, und er das Haus danach loskriegt.“
„Kommen Sie nach Alaska“, ätzte Laura, „ihr Mörder ist schon da.“
„Denkt doch mal nach! Wo treiben sich Mörder herum? Dort wo sie etwas zu holen haben. Was wollte unser Mörder? Wahrscheinlich das Mädchen. Wie viele Mädchen hat er hier in den letzten zwei Jahren zur Auswahl gehabt? Keine! Wir sind hier sicher.“
Jans Blick wanderte hinaus in die Dämmerung. „Was, wenn er noch immer im Tal ist?“
„Das ist doch absurd. Irgendwie muss er herausgefunden haben, sonst hätte ihn die Polizei erwischt.“
Laura verschränkte die Arme vor der Brust und zog eine Grimasse. „Aber nachdem die Suchtrupps abgezogen waren, ist er gleich wieder ins Tal zurückgekehrt, um Reffords Leiche auszustellen? Womit er nebenbei die Polizei wieder angelockt hat? So verpeilt ist nicht mal ein Psycho.“
Michael grübelte. „Wie war das noch mal ... ein Psychologe sagte irgendwas mit Übertragung. So ungefähr, dass der Typ das Haus angegriffen hat, nicht um die Reffords zu warnen, sondern um etwas symbolisch zu bestrafen für das, was er tun würde. Eine Art Sühne, bloß im Voraus und nach außen, statt gegen sich selbst gerichtet. Dass er Refford zurückgeschleppt hat, war der Friedensschluss.“
„Ziemlich gestörte Logik“, sagte Jan. „Gibt es auch eine Theorie, warum er Refford umgebracht hat und nicht Wilken? Natürlich könnte Refford ihn entdeckt und ihm keine andere Wahl gelassen haben, aber der Mörder hatte nach dem Brand viele Stunden, um abzuhauen. Stattdessen hat er ... Rache geübt? Reffords Haus, Reffords Tochter, Refford selbst ...“
Laura legte sich die Hände wie ein Megaphon an den Mund. „Hat hier jemand einen Refford in der Familie? Einen Refford! Nein?“ Sie nahm die Hände herunter und lächelte vertraulich. „Uns kann tatsächlich nichts passieren.“
Jan wartete kurz, dann fragte er: „Ist Mr. Wilken eigentlich verdächtigt worden?“
„Klar“, antwortete Michael, „und man hat herausgefunden, dass er und Refford mit extrem hohen Summen darauf spekuliert haben, dass die Bohrlizenzen in Alaska ausgeweitet werden. Das Geld kam aus schwer nachvollziehbaren, aber wohl legalen Quellen. Allerdings belasteten diese Untersuchungen Wilken nicht im Mordfall. Er verstand sich gut mit seinem Geschäftspartner – und Refford wieder auftauchen zu lassen, hätte für ihn als Mörder keinen Sinn gemacht.“ Michael schaute zu Greg hinüber, der sich räkelte, und schloss: „Ob es um das Mädchen ging oder um Rache oder etwas ganz Anderes – wir können nur spekulieren. Letztlich kann es uns egal sein. Das alles liegt zwei Jahre zurück, es ist einfach nur eine spannende Geschichte.“
Alle schwiegen eine Weile und die Gesprächsanläufe, die Laura unternahm, versandeten. Einer nach dem anderen gähnte, und sie stellten fest, wie müde sie waren. Trotz der Helligkeit draußen war das nicht verwunderlich, so nahe dem Polarkreis würde die Nacht erst spät anbrechen. Die Zeitverschiebung eingerechnet hatten sie lange durchgehalten und durften sich geschlagen geben.
Jan räumte die Gläser in die Küche, damit niemand am Morgen darüber stolpern würde. Er hörte die Anderen die Treppe hinaufsteigen. Im Salon wartete Anna und teilte ihm mit, sie werde sich noch die Beine vertreten. Obwohl er im Sessel bereits einmal eingenickt war, bot er an, sie zu begleiten. Er wollte den Anderen hinterher, um sich abzumelden, wie sie es zuvor besprochen hatten,
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