Wildnis: Thriller - Band 2 der Trilogie
hätten den wahren Mr. Wilken kontaktiert.“
„ Er wollte Anna von Anfang an!“, rief Jan heftig. Aber das war natürlich Unsinn. Der Mörder hatte reichlich Gelegenheit, Anna zu fangen, als sie in den ersten Tagen allein durch das Tal streunte.
Ralph lachte, sein Hängekinn wackelte. „Willst du nicht beim FBI anheuern? Du würdest bei uns in die Abteilung für abgedrehte Ideen und Ufos kommen.“
„ Was ist mit Laura?“, wechselte Anna das Thema. Jan biss die Zähne zusammen. Er war mit Laura nie befreundet gewesen, doch sie gehörte zu ihrer Gemeinschaft, für die Michael sein Leben gelassen hatte. Das Schicksal hatte sie zusammengefügt und er fühlte sich jenseits aller Verstandesgründe für Laura verantwortlich. Er verdrängte diese vertrauten, quälenden Gedanken und konzentrierte sich auf Ralphs Erklärungen.
„ Eine Möglichkeit wäre, dass die Täter sie umgebracht und im Tal verbrannt oder vergraben haben. Das passt allerdings nicht zum Einsiedler. Michael hat er liegen lassen und Sarah hing immer noch am Baum, als die Polizeihubschrauber eintrafen. Ihren Vater hat er uns damals nachträglich präsentiert. Warum sollte er Lauras Leiche verstecken? Wahrscheinlicher ist, dass er sie mitgenommen hat. Sie müssen durch die Luft entkommen sein, sonst hätten wir sie im Umkreis des Tales erwischt. Entweder sie hatten irgendwo einen Hubschrauber geparkt oder –“
Ralphs Handy spielte einige Töne Country-Musik. „Unser Termin beim Häuptling, in zehn Minuten. Und dabei habe ich euch noch gar nichts von den beiden Morden erzählt. Tut einfach informiert. Sagt immer: ‚Sehr mysteriös, höchst obskur, zutiefst rätselhaft‘, dann glaubt er, dass ihr so viel wisst wie er.“
Sie fuhren in den vierten Stock, wo sie in einem Vorzimmer warten mussten, bis sie in ein Büro gebeten wurden, dessen großformatige Malereien arktischer Entdeckungsabenteuer ganz dem prätentiösen Auftreten des Inhabers entsprachen. Der ‚große Häuptling‘ lobte ihre Courage, schweifte ab zu den Heldentaten der Nordpol-Pioniere Peary und Amundsen und entließ sie huldvoll wie ein wohlgesonnener Monarch seine Bittsteller.
Sie kehrten in Ralphs Büro zurück.
„ Jetzt wisst ihr, wieso ich meinen Kaffee nicht austrinke“, sagte er, kaum dass er die Tür geschlossen hatte. „Wenn mein Gehirn so groß würde wie Popeyes Bizeps, könnten sie nicht anders, als mich zu befördern. Und da oben würde ich es keine Woche aushalten.“
Mit dem Unterarm wischte er etliche Stifte zum Durcheinander am Rand des Schreibtisches. „Bühne frei für die Eiskunstläuferin.“ Er nahm einen Ordner aus dem Aktenschrank, legte ihn auf dem Schreibtisch ab und rückte die beiden Stühle davor. Anna und Jan setzten sich und schlugen den Ordner auf. Ralph beugte sich über ihre Schultern und erläuterte: „Hier feiert sie ihren 24. Geburtstag. Die Latina mit dem afroamerikanischen Einschlag. Und dann eine Woche später.“ Jan blätterte um. Auf der linken Seite sahen sie einen kleinen See, in der Mitte einen unscheinbaren Hügel, dahinter Bäume und Dächer, alles frisch verschneit. Die rechte Seite zeigte die gleiche dunkelhäutige Frau unter einer dünnen Schneedecke, nackt bis auf ihre roten Schlittschuhe, zusammengekauert, die Knie umschlungen. Jan schlug rasch die Seite um. Die Augen der Einkunstläuferin blickten ihm in Nahaufnahme entgegen. Lippen, Wangen und Lider geschmackvoll geschminkt, das Haar zu Zöpfen geflochten: Wäre die Lebensfreude in ihren Augen nicht erloschen, hätte sie attraktiver ausgesehen als auf dem Geburtstagsbild.
Ralph seufzte. „Vor vier Jahren aus Brasilien gekommen, Aufenthaltsgenehmigung in Ordnung, keine Straftaten, das Umfeld sauber, mit einem Ingenieur verlobt. Ich überspringe die biografischen Details. Sie wurde sexuell missbraucht, aber das wahre Mordmotiv hielt sie in ihrer Faust.“ Er wühlte in einem der Stapel und warf ein weiteres Foto über das der Eiskunstläuferin.
„ Nein!“ Anna wich zurück und stieß gegen Ralph.
Jan griff nach dem Foto: Gleich einer Porträtzeichnung fein und farbenreich auf ein weißes Tuch gestickt blickte ihm Anna entgegen. Ihr dunkles Feuer und ihre kühle Distanz, ihr Selbstbewusstsein und ihre Selbstvergessenheit. Jan bewunderte den Künstler, dessen Brutalität ihn eben noch schockiert hatte.
„ Die Brasilianerin war nur eine Botin, mit der sich der Mörder vergnügt hat, bevor er sie zu uns schickte. Die zweite Leiche ist zehn Tage später
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