Wildnis: Thriller - Band 2 der Trilogie
aufgetaucht. Ihr müsst umblättern. Nein? Gut, ich mache es kurz: die achtzehnjährige Tochter eines peruanischen Kochs, die sich ohne das Wissen ihrer Familie mit speziellen Hausbesuchen ihr Taschengeld massiv aufbesserte. Man hat sie nicht einmal als vermisst gemeldet, da sie gelegentlich für einige Tage verschwand. Ein Freier sprach sie im Rotlichtmilieu an. Hackedicht, sonst wäre ihm aufgefallen, dass selbst Prostituierte sich im Winter kein so tiefes Dekolletee antun. Sie trug nur ein rotes Abendkleid.“ Er wühlte erneut im Stapel. „Die Stickerei in ihrer Faust ist noch gelungener als die erste.“
„ Nicht nötig.“ Anna presste sich die Hand vor den Mund. „Mir dreht es gleich den Magen um.“
Jan hätte das Bild gerne gesehen.
„ Himmel, was bin ich für ein Gastgeber?“ Ralph ließ von der Suche ab. „Ihr müsst hungrig sein!“
Sie fuhren mit dem Lift ein Stockwerk tiefer und gingen einen Flur hinunter, an dessen Wänden Fahndungsfotos hingen: Täter, Opfer, Tatwaffen, Fluchtautos. In der Cafeteria bestand Ralph darauf, dass sie ihre Tabletts mit Bagels, Sandwiches und Muffins beluden. Sich selbst genehmigte er lediglich einen Apfel.
Sie setzten sich um einen der Plastiktische. „Mein einziges sportliches Potenzial ist der Sumo-Kampf. Leider ist sowas in Alaska nicht allzu populär.“ Ralph biss in den Apfel und redete sogleich weiter: „Die beiden jungen Frauen ... sind an einem Drogencocktail auf Scopolamin-Basis ... gestorben. Angeblich macht Scopolamin schon willenlos, wenn man auch nur eine damit präparierte Briefmarke ableckt. Ganz so schnell geht es nicht ... aber wenn man eine solche Dosis injiziert bekommt wie die beiden Frauen und dazu noch die Halluzinogene, da dürfte es einem schwerfallen, das mit dem Ich und dem Du so streng auseinanderzuhalten. Er hat die Drogen nicht benutzt, um sie in seine Gewalt zu bringen ... sondern damit sie in einem inszenierten Sexualakt sterben. Oder kurz danach. So sicher sind sich die Gerichtsmediziner da nicht. Ich erspare euch den Obduktionsbericht. Jedenfalls hat er sichergestellt, dass wir keine DNA finden.“
Jan bemühte sich, die Fotos der toten Eiskunstläuferin auszublenden, um sein Essen herunterzubekommen. Er hatte immer noch einen Berg auf seinem Tablett, als Ralph sich auf die Knie klatschte. „Wir müssen los, Anna unserem Mörder vorstellen. Schließlich wollen wir verhindern, dass die Latinas in Alaska zur gefährdeten Spezies werden. An denen hänge ich noch mehr als an den Eisbären.“
Ralphs Art war gewöhnungsbedürftig, aber sie half Jan, mit dem Ganzen zurechtzukommen. Die deplatzierten Witze und das stetige Gerede wirkten wie eine Barriere zwischen dem Grauen draußen und hier drinnen.
Sie ließen das Essen liegen und liefen eilig den Flur zurück. Ralph grüßte einen Kollegen und erzählte weiter: „Wir haben eine Pressekonferenz angesetzt, auf der wir den Journalisten ein paar Brocken über die Ermittlungen vorwerfen. Die Stickbilder von Anna halten wir allerdings geheim – bislang hat noch niemand die beiden Morde mit dem Chix-Tal in Verbindung gebracht. Während der Konferenz werde ich husten. Hilfsbereit, wie du bist, Anna, wirst du mir ein Glas Wasser bringen und in die Kamera lächeln. Denk dabei an deinen Lover in Paris. Danach dürft ihr ins Bett.“
Beim Pressetermin übernahm ‚der Häuptling‘ die druckreife Einleitung, Ralph ergänzte die Details. Die Journalisten schrieben sich die Finger wund, um mit seinem schludrig-bildhaften Dauerbeschuss mitzuhalten. Als er hustete, brachte ihm Anna das Wasserglas und lächelte gezwungen. Er trank und kündigte einen neuen, vielversprechenden Fahndungsansatz an, von dem er leider nichts sagen dürfe. Dieser Teil bereitete ihm sichtlich Freude.
Nach wenigen Fragen wurden die Journalisten verabschiedet. Ralph stieg vom Podium und winkte Tom herbei, der sie bereits vom Flughafen hergefahren hatte. Der junge Agent blickte ständig so freundlich, als wolle er gleich ein Gespräch beginnen, blieb jedoch still und antwortete einsilbig. Der ideale Ausgleich nach einer Überdosis Ralph.
Tom und ein muskulöser FBI-Agent, den sie noch nicht kannten, begleiteten Anna und Jan in die Tiefgarage. Sie nahmen den gleichen Pick-up wie zuvor. Ein zweiter FBI-Wagen schob sich hinter ihnen in den Innenstadtverkehr. Schneeböen trieben vom Bürgersteig auf die Straße, vereinzelte Fußgänger hasteten an den Hauswänden entlang, die Gesichter tief in Kapuzen verhüllt. Der
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