Wildnis: Thriller - Band 2 der Trilogie
Dann würde er ihn Hernandez übergeben, und der würde ihn mit der gleichen unbeteiligten Geringschätzung hinrichten, mit der er ihn von einem Raum in den anderen brachte.
Würde er Anna davor noch einmal sehen? Er wollte von ihr Abschied nehmen – und fühlte sich nicht bereit loszulassen, um würdig zu sterben. Für sie hingegen mochte der Tod eine Erleichterung sein, nachdem sie Olivers Willen und den Flammen ausgeliefert gewesen war.
Er drehte sich um den Pfosten und lehnte sich mit der Stirn an die kalte Fensterfront.
18 Jahre, und beide mussten sie sterben. So viel würde ihnen entgehen! Seine Gedanken schweiften von der verlorenen Zukunft zu den Erinnerungen: wie er auf dem Schoß seiner Eltern in einem Strandkorb an der Ostsee lag und sie ihn kitzelten. Konnte er die blau-weißen Streifen des Sonnendachs wirklich noch vor sich sehen? Da war ein anderes Erinnerungsbild aus jenem Urlaub: Er kam auf den Strandkorb zugerannt – und der war tatsächlich blau-weiß gestreift. Wie sich manche Dinge einprägten! Genauso der vollgestopfte, dämmrige Schreibwarenladen, in dem sie jedes Jahr seinen Schulbedarf gekauft hatten. Er fühlte den Besitzerstolz, mit dem er seinen ersten Taschenrechner eingepackt hatte. Und danach hatte ihm seine Mutter Kirschtorte in der Fußgängerzone spendiert, zwei Stück sogar, darum erinnerte er sich –
Ein Geräusch. Jan drehte sich hastig zum Raum. Albert nahm auf dem Sessel Platz, auf dem er zuvor Jan erwartet hatte. Er bezog Position, Oliver und Anna würden demnach gleich eintreffen.
„ Du hast versprochen, uns freizulassen“, rief Jan.
„ Ich halte meine Versprechen. Du bist nur zur Vorsicht angebunden, falls du Oliver beistehen möchtest.“
„ Oliver ist ein Monster, wieso sollte ich ihm helfen?“
„ Bei Oliver ist Vorsicht geboten. Er könnte dich auf irgendeine Art gegen mich einsetzen, mit der ich nicht rechne.“
Jan wand sich in den Handschellen, sie saßen fest. Er stemmte sich dagegen, der Pfosten gab nicht nach.
„ Pst.“ Albert hielt die Augen geschlossen. Sie warteten.
Die Tür öffnete sich. Oliver kam herein, die Hände hinter dem Rücken, dicht gefolgt von Hernandez. Die beiden gingen auf den freien Sessel zu. Oliver hielt sich aufrecht, den Blick herausfordernd auf Albert gerichtet.
Alberts Gesicht zuckte. „Setz ...“, sagte er und wollte eine Geste machen, ließ jedoch seine zitternde Hand wieder auf die Knie sinken.
Hernandez schob Oliver in den Sessel und stellte sich hinter Albert.
Stille bis auf Alberts keuchenden Atem.
„ Ich habe dich!“ Albert schlug mit seinem Gehstock auf den Boden. Oliver lächelte abfällig.
„ Gib mir die Pistole und hol uns den Wein.“ Albert versuchte vergeblich, es wie eine seiner gewöhnlichen Anweisungen klingen zu lassen. Hernandez übergab ihm seine Waffe und ging in den Nebenraum.
„ So wollte ich dich immer sehen.“ Albert nahm seinen Feind ins Visier, doch er sprach ohne Leidenschaft. Er hasste Oliver, er wollte ihn auslöschen, und zugleich schien ihm die Direktheit der Situation unangenehm, diese Waffe, die so unabweislich zeigte, dass er seinen Gegenüber ermorden würde.
Die Tür des Nebenraums öffnete sich und Hernandez brachte ein Tablett herein, auf dem zwei Weingläser und eine Dekantierkaraffe schimmerten. Er stolperte, fing sich wieder und stellte das Tablett ab.
Albert senkte die Pistole. „Ein Château Latour, du wirst ihn schätzen.“
Oliver schwieg noch immer.
„ Nach all diesen Jahren sollten wir unser Wiedersehen angemessen begehen. Lucia hat mir damals den Vorzug gegeben –“
„ Sprich nicht von ihr!“ Jan erschrak über die Rohheit in Olivers Stimme, diese Unbedingtheit, die kein Foltermeister je brechen könnte. „Du bist nicht würdig, dich an sie zu erinnern.“
„ Wieso soll sie mir weniger gehören als dir? Dich hat sie verlassen, um mit mir zu kommen!“
„ Du hast sie mir geraubt. Du hast dich über den Abgrund zwischen Tier und Übermensch gewagt. Du hast meine Freundschaft verraten, die Treue des Ehemannes, die Sohnespflicht, du hast dein Haus verbrannt und mit rußgeschwärzten Händen die Blüte aus dem fremden Garten gebrochen. Ihr Duft war dein Rausch.“
„ Was für ein Wahnsinn!“
„ Du verstehst mich genau, denn auch du bist ein Ästhet. Du hast erkannt, dass die Schönheit der Welt die Zeit sprengen kann – und dass die allmächtige Zeit doch immer siegt, dass sie sich öde zwischen die Momente der Ekstase legt. Darüber warst du
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