Wildnis: Thriller - Band 3 der Trilogie
erniedrigt, nun fühlte er sich mit der Bekleidung ein wenig geschützter.
Schließlich wurde er in einen kleinen Nebenraum geführt, in dem eine grauhaarige Polizistin an einem Schreibtisch saß und Sudoku-Aufgaben löste. Sie forderte ihn auf, seine Personalien anzugeben. Er bestand auf seinem Schweigerecht, solange kein Anwalt zugegen sei, gab aber nach, als sie ihn informierte, die Verteidigerin müsse gleich eintreffen.
Einige Minuten später waren Stimmen im Gang zu hören. Eine mollige Frau um die Fünfzig erschien in der Tür. Mit ihrem rotbraun gefärbten, dauergewellten Haar und dem vergoldeten Brillengestell wirkte sie altmodisch und abgehoben, doch bereits ihr Händedruck belehrte Jan eines Besseren. Sie versicherte ihm, dass sie gut auf ihn aufpassen werde, schimpfte, dass sie nicht bereits bei der Durchsuchung hinzugezogen worden sei, und schickte die Grauhaarige hinaus, um mit ihrem Mandanten eine Besprechung unter vier Augen abzuhalten.
Jan war dankbar für diesen Beistand. Sie kam ihm vor wie eine Glucke, die ihn unter ihre Fittiche genommen hatte und nach allen hackte, die ihm an die Federn wollten. Wahrscheinlich adoptierte sie alle Mandanten temporär, so die sich irgendwie dazu eigneten – und am liebsten brave, verschüchterte junge Männer wie ihn. Er überlegte, ob er seine Eltern verständigen lassen sollte, entschied sich aber dagegen. Das wollte er seiner Mutter nicht antun.
Sie ließ ihnen Kaffee bringen und hörte sich seine Geschichte komplett an, ehe sie Fragen stellte. Nach einer halben Stunde entschied sie, dass Jan weiterhin jede Aussage zur Sache verweigern solle, erklärte, dass sie auf sofortige Akteneinsicht drängen würde, und zeigte sich zuversichtlich, dass sie morgen Vormittag vom Staatsanwalt die Freilassung erwirken werde. Bei Anna liefe der Verdacht wohl auf Mitwisserschaft hinaus und sie müsste ebenfalls bald auf freien Fuß gesetzt werden. Anna werde gegenwärtig von einem Kollegen besucht, da eine Doppelvertretung zweier Mandanten durch den gleichen Anwalt in einem Straffall untersagt sei.
Sie riefen die Grauhaarige, gaben Jans Aussageverweigerung zu Protokoll und verabschiedeten sich voneinander. Er fühlte sich allein, als sie die Tür hinter sich zuzog. Nur ihre Visitenkarte blieb ihm. Ute Voß, den Namen hatte er bei der Begrüßung gar nicht mitbekommen.
Zwei Polizisten brachten Jan in eine Zelle. Er ließ sich auf die Pritsche sinken und schloss die Augen. Die Schritte der Polizisten entfernten sich.
Wie eine Collage aus Filmschnipseln, so wirr flimmerten die Bilder und Gedanken in seinem Kopf durcheinander. Anna, die sich ihre rosa Ballettschuhe von den blutigen Füßen streifte. Rainer, der ihn verhöhnte und stehenließ. Annas verführerischer Blick, Kerzenschein, seine beherrschte Lust. Die Polizisten, die in die Wohnung drängten. Die Caravaggio-Aufführung: Imitierte der Tänzer im halbdunklen Hintergrund den ersten mit übermenschlicher Perfektion oder stand da ein getarnter Spiegel?
Jan presste sich die Hände gegen die Schläfen.
War er verrückt? Konnte er Rainer angegriffen haben, ohne sich dessen zu entsinnen? Dr. Jekyll und Mr. Hyde waren literarische Erfindungen, aber eine Amnesie, wie sie der Kommissar angesprochen hatte, war denkbar. Und auch wenn er möglichst selten daran dachte: Er war Olivers Enkel, vielleicht hatte er dessen mörderische Gene geerbt.
Er versuchte, keinen anderen Gedanken zuzulassen und sich ganz auf die Zeit nach dem Gespräch bei Chris zu konzentrieren. Wohin war er vom Wohnheim aus gegangen? War es möglich, dass ihn seine Schritte zurück zur Tanzhalle gelenkt hatten?
Nein, ihm schien, dass er daran vorbeigelaufen war und sich links gehalten hatte. Irgendwann ziemlich am Anfang seines Herumirrens war das Gelb einer Straßenbahn an ihm vorbeigerauscht. Und einmal wäre er fast gestolpert, da war er an einer Bürgersteigkante hängen geblieben. Immerhin, einige Bruchstücke konnte er aus seinem Gedächtnis abrufen. Aber nichts wies auf seine Rückkehr in die Tanzhalle hin.
Er ging berühmte Mordfälle in der Literatur durch. Macbeth, der seinen König erdolchte, um sich der Krone zu bemächtigen, Raskolnikow, der die wucherische Pfandleiherin erschlug, um ihren Schatz zu rauben – immer verfolgte die Schuld den Täter. Und bei Kafka entstand das Schuldgefühl selbst ohne Tat, allein aus der Beschuldigung heraus. Aber so sehr er in sich suchte, fand er nicht die Spur eines schlechten Gewissens. Er konnte die
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