Wildnis: Thriller - Band 3 der Trilogie
schnell heranrückte: Ehe man laue Abende genießen konnte, war es Mai, im Juni überschritt die Sonne schon ihren Zenit, den ganzen heißen Sommer über beraubte die Nacht den Tag und schon nahte der Herbst. Gewiss, die prächtigen Laubkronen waren ein erhebender Anblick, aber eben auch ein tragischer: der letzte Glanz, auf Blätter gemalt, die bald verrotten würden. Eine deprimierende Jahreszeit, in der Jan sich verletzlich fühlte, selbst wenn sein Leben halbwegs glattlief. Und so, wie die Dinge jetzt standen ...
Er öffnete das Fenster und schaute an der Regenrinne hinab. Welch Wahnsinn! Er schloss das Fenster und nahm das Telefon. Es führte kein Weg daran vorbei, er musste sie anrufen. Er ließ es klingeln, fünfmal, sechsmal.
„ Herrera, guten Tag.“
„ Hallo Carmen.“
„ Hallo Jan, wie nett, dass du anrufst! Wie geht es euch? Ich bin gerade am Staubsaugen, die Handwerker waren da. Ich habe die Fenster im Gästezimmer austauschen lassen, und bei der Gelegenheit habe ich auch gleich neu streichen lassen. Es wird euch gefallen. Ihr kommt doch bald?“
Es ärgerte ihn, wie sie sich nach ihrem Befinden erkundigte und dann übergangslos ihr eigenes Programm abspulte. Er musste daran denken, wie Anna, das kleine Mädchen, auf seinem Schoß geklagt hatte, er höre ihr nie zu. Sie musste es als Kind schwer gehabt haben, zu ihrer Mutter durchzudringen. „Ich fürchte, das wird eine Weile dauern“, sagte er kühl.
„ Muss sie weiterhin so viel üben? Dabei war die Aufführung im Sommer so ein Erfolg für sie. Nach allem, was du mir erzählt hast, könnte sie es eigentlich ein bisschen lockerer angehen lassen.“
„ Vielleicht ist das ihre Art, mit der Vergangenheit fertig zu werden“, sagte Jan herausfordernd.
„ Was hat sie dir erzählt?“, fragte Carmen scharf.
„ Viel zu wenig! Ihr verschweigt mir etwas.“
„ Anna hatte gesundheitliche Probleme.“ Carmen sprach die Konsonanten jetzt härter aus und rollte das R ein wenig. Das hatte Jan bereits zuvor an ihr beobachtet, wenn etwas ihren Unmut erregte. „Jetzt geht es ihr gut und wir sollten die Vergangenheit ruhen lassen. Denk nicht darüber nach, Jan!“
„ Ich fürchte, das wird unvermeidlich sein.“
„ Was soll das? Warum willst du sie nicht in Frieden lassen? Du kannst dir nicht vorstellen, wie hart das für uns war und wie froh wir sind, dass wir das hinter uns haben.“ Ihre Stimme wurde wieder wärmer, der spanische Akzent schwächer. „Ich bin so stolz auf sie. Es fällt mir schwer, sie loszulassen, aber im Grunde bin ich froh darüber, dass sie ohne mich zurechtkommt, sehr froh, und auch, dass sie solch einen tollen Freund gefunden hat. Du bist Teil der Familie, Jan, und ihr müsst wirklich in den Herbstferien mit nach Spanien kommen, damit du alle kennenlernen kannst.“
Jans Magen zog sich zusammen. Irgendwie musste er es ihr sagen. „Das würde ich sehr gerne –“
„ Kein ‚aber‘. Ihr kommt mit! Ich lade euch ein.“
„ Carmen, ich muss dir etwas sagen.“
Eine Schrecksekunde, dann fragte sie: „Was ist mit ihr?“
„ Sie ist in der Psychiatrie.“
Schweigen.
„ Carmen?“
Sie gab einen schluchzenden Ton von sich.
„ Ich habe sie vor einer halben Stunde einliefern lassen. Sie hat sich heute Morgen erst wie ein kleines Mädchen verhalten und dann wollte sie mich erstechen. Ich habe mich gewehrt und sie verletzt. Wahrscheinlich nicht schwer, aber ich musste sie behandeln lassen.“ Er wartete einen Moment, um ihr die Möglichkeit zu geben, etwas zu sagen, und fuhr fort: „Sie hat sich schon die letzten Monate über seltsam benommen, extrem angespannt und zurückgezogen, unerklärliche Stimmungswechsel, ein krankhafter Ehrgeiz beim Ballett. Gestern ist ein Kollege von ihr verunglückt. Er ist von einem Bett gefallen, das in sieben Metern Höhe angebracht ist, die Polizei nimmt an, dass er gestoßen wurde. Wir sind beide heute Nacht verhaftet worden. Das hat sich schnell als Irrtum herausgestellt und mittlerweile haben sie wohl die wahre Täterin, aber der Stress war zu viel für Anna.“
Carmen weinte.
„ Sie ist in der Charité, das ist eine der besten Kliniken. Heute darf sie niemand besuchen. Vielleicht lassen sie dich morgen zu ihr. Willst du nicht nach Berlin kommen? Du kannst in unserer Wohnung übernachten und zusammen halten wir das Warten besser aus.“
„ Danke, ich weiß nicht ...“
In ihrem Zustand sollte sie auf keinem Fall mit dem Auto kommen, besser wäre die Bahn. Ein paar Stunden
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