Wildwasserpolka
Anwohnerparkplatz dürfte das hingegen nicht sein, schon gar nicht einer auf dem Dorf.
Ich gehe die Hauptstraße entlang in Richtung Ortsmitte. Von der Villa auf der gegenüberliegenden Seite grüßt ein puderrosafarbener Stuckengel, auf einer erhöhten Plattform über der Straße posieren zwei Kanonen. Eine Kirche, eine Sparkasse, schieferverkleidete Fachwerkbauten, eine Bäckerei. Es kann nicht verkehrt sein, mich für den Fall der Fälle mit Laugenbrezeln einzudecken, beschließe ich. Vielleicht gibt es sogar eine anständige Zeitung im Laden.
12
Wenn man flieht, läuft man dem Schicksal in die Arme.
Lateinische Weisheit
Es dauert einen Augenblick, ehe ich die große, schlanke Frau erkenne, die gerade den Laden verlässt, als ich ihn betreten will. Sie hat ihr Haar zu einem einfachen Pferdeschwanz gebunden, trägt Jeans und Sweatshirt statt ihres billigen Nuttenoutfits und wirkt ohne die grelle Schminke viel attraktiver. In ihrer Hand hält sie eine Papiertüte und eine kleine Flasche Wasser und geht zielstrebig davon, ohne mir einen einzigen Blick zuzuwerfen.
Gute Schule, denke ich, könnte glatt am Recklinghäu-ser Lehrinstitut ausgebildet worden sein. Möglicherweise ist sie auch ein Naturtalent wie Denise, was ich für eher unwahrscheinlich halte. Auch eine Denise musste angelernt werden; Menschen verhalten sich nun einmal auf eine bestimmte Art und Weise, ohne ein Bewusstsein dafür zu haben, soll heißen: Sollte diese junge Dame mich gesucht – und gefunden haben –, würde sie mich ansehen, zumindest für den Bruchteil von Sekunden. Um diesen unbewussten Zwang zu durchbrechen, bedarf es einer gewissenhaften Ausbildung – und viel Training.
Eins ist jedenfalls klar: Es kann kein Zufall sein, dass die Brünette hier auftaucht – folglich hat Waskovic sie geschickt. Diese Vanessa Behrendt ist nicht nur sein Betthäschen, nicht nur die Brennpunktmieze, für die ich sie gehalten habe, sie gehört zur Sesamstraßen-Gang.
Mir wird übel, wenn ich daran denke, wie schlampig ich gearbeitet haben muss, dass mir dieses Detail entgangen ist.
Ich kaufe vier Brezeln und zwei Puddingteilchen und wühle unnötig lange nach Kleingeld. Was tut sie hier?, überlege ich fieberhaft. Ist sie womöglich für Ernie eingesprungen, der in der gestrigen Nacht die Lust verloren hat oder sich erst einmal ausschlafen muss? Vielleicht sind die beiden auch im Team unterwegs, und sie müssen mir schon länger gefolgt sein, sonst hätten sie mich hier nicht entdeckt. Shit! Wenn sie am Bahnhof waren, haben sie bestimmt gesehen, dass ich mein Outfit gewechselt habe, und vor allem wissen sie, dass ich nicht mit dem nächstbesten Zug in die weite Welt entflohen bin. Was wiederum bedeutet, dass ich mich vom Acker machen muss. Und zwar sofort.
Herr im Himmel, sie wissen noch immer über jeden meiner Schritte Bescheid! Ich werde sie einfach nicht los, geschweige denn, dass ich in der Lage wäre, dem bösen Zauber ein Ende zu bereiten.
Aber ich werde nicht vor dieser Nagelstudiotussi und Gelegenheitsprostituierten kapitulieren! Vielleicht hat sie meinen Wagen erst vor wenigen Minuten am Herchener Bahnhof entdeckt, hat daraus geschlossen, dass ich mich aus dem Staub gemacht habe, und ist aufs Geratewohl in die nächste Ortschaft gefahren. Möglicherweise hat sie wirklich gedacht, ich wäre in den Zug gestiegen, und hat mich deshalb gar nicht erkannt. Wie auch ich sie beinahe nicht erkannt hätte.
Schon merkwürdig: Zwei Frauen, die sich verstellen, indem sich die eine wie die andere verhält. Ich in meinem Edelgrufti-Outfit, sie in löchriger Jeans und himmelblauem Schlabberpulli. Ihr Auftritt kann mich jetzt nicht mehr so sehr beeindrucken: Wenn sie weiß, wer ich bin, und ihr daran gelegen ist, unerkannt zu bleiben, hätte sie niemals eine direkte Konfrontation zulassen dürfen. Trotz des anderen Kleidungsstils und der schlichten Frisur musste sie damit rechnen, dass ich sie erkenne, zumal sie ja wohl weiß, dass ich sie bis vor Kurzem beschattet habe. Also, Kopf hoch, Jojo! Diese Vanessa wird dich nicht von deinen Plänen abbringen.
Ich verlasse das winzige Ladenlokal, trete wieder auf die Straße, schaue mich unauffällig um, sehe aber niemanden. Doch kaum bin ich fünf Schritte gegangen, flitzt die Behrendt in einem Mini an mir vorbei. Nicht der Wagen, mit dem sie sonst unterwegs ist, und außerdem nicht gerade das unauffälligste Fahrzeug, was wiederum gegen das Observierungsgeschick dieser Frau spricht – oder für ihren
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