Wildwasserpolka
Lebensgefahr gerate und mir keine andere Möglichkeit der Kontaktaufnahme bleibt. Gebraucht habe ich es allerdings erst ein oder zwei Mal, wenn ich mich recht entsinne, und das nicht unmittelbar im Angesicht des Todes, sondern weil ich vergessen hatte, den Akku meines Smartphones aufzuladen.
Aus Sicherheitsgründen hatte ich darauf verzichtet, Markus mit dem Notfallhandy anzurufen. An der Anruferliste von Yannicks Kita dürfte die Polizei allerdings kein großes Interesse haben.
»Hallo, Claudia! Hier ist Jojo.« Claudia ist die Kita-Leiterin und recht gut mit den Angelegenheiten der Familie Schiller vertraut. »Claudia, ich muss leider den Termin für das Entwicklungsgespräch morgen absagen, ich habe zu viel zu tun.«
»Okay, macht nichts«, meint Claudia fröhlich. »Markus wird ja kommen.«
»Markus kommt?«
»Ja, das sagte er heute Morgen, als er Yannick gebracht hat.«
Na, der hat Nerven! Die Bude steht in Flammen, die Frau ist abgehauen oder kriminell geworden oder beides und er geht brav zum Entwicklungsgespräch!
»Aha, sehr gut«, behaupte ich. »Weißt du, ich bin nicht Zuhause und erreiche ihn derzeit nicht. Deshalb …«
»Aber das mit dem Brand weißt du doch, oder?«
»Ja, ja, natürlich«, beeile ich mich zu sagen. »Claudia, könntest du mir bitte einen großen Gefallen tun?«
»Okay.«
»Ich bin auf einer Fortbildung und kann gleich nicht mehr telefonieren. Richtest du Markus bitte etwas aus, wenn er Yannick abholen kommt?«
»Klar. Kein Problem.«
»Sag ihm, man hätte mir gestern Abend meine Handtasche geklaut, mit Handy und Haustürschlüssel. Das mit den Schlüsseln ist wirklich wichtig!«
»Soll er das Schloss austauschen lassen?«
»Genau. Sag ihm bitte, dass er das unbedingt tun soll!«
»Okaaaay.« Sie zieht das Wort in die Länge wie einen Kaugummi. »Ich schreibe es mir gerade auf.«
Gut. Dann schreib dazu, dass ich mit niemandem gevögelt habe, schon gar nicht bei uns zu Hause, und dass Markus sich verdammt noch mal mit Yannick vom Acker machen soll, bis dieser stockfinstere Albtraum ein Ende hat.
»Danke«, sage ich schlicht.
»Ihr seid im Moment ja richtig vom Pech verfolgt«, stellt Claudia zutreffend fest.
»Wem sagst du das.«
»Ich werde es Markus sofort ausrichten, wenn er kommt.«
Okay. Das ist genau das, was ich wollte.
Ich hoffe, Claudia hält ihr Versprechen, aber gewöhnlich kann man sich auf sie verlassen. Und hoffentlich zählt Markus zwei und zwei zusammen und merkt, dass das mit den Schlüsseln gelogen ist, und zwar bewusst fantasielos gelogen, um ihm zu signalisieren, dass jemand im Haus war. Dass es nicht so war, wie es den Anschein hat.
Dass ich die Wahrheit gesagt habe.
Dass ich dieses Mal die Wahrheit gesagt habe.
Es ist kein Geheimnis, dass ich eine Zeit lang einen ›zweiten Wohnsitz‹ hatte, wie es so schön heißt. Im Klartext bedeutet das, ich bin ausgezogen, als Yannick noch ein Baby war. Eine Geschichte, für die mich viele angefeindet haben, am meisten ich mich selbst.
Das Drama hat nicht erst mit der Geburt angefangen. Schon in der Schwangerschaft habe ich gemerkt, dass etwas nicht stimmte. Kein medizinisches Problem, sondern ein mentales, ich fühlte mich ausgeliefert: meinem Körper, dem wachsenden kleinen Wesen, dem Schicksal gegenüber. Warte ab, hieß es, wenn das Kind da ist, gibt sich das von allein. Ich wartete ab, das Kind kam, und es gab sich nicht. Die Katastrophe war da.
Die medizinische Definition für mein desolates Befinden lautete postnatale Depression, doch mir schien es nicht wie eine momentane Befindlichkeit, ein ungünstiger Aggregatzustand meines Gefühlslebens, der sich bald ändern würde. Es war keine Frage von Krankheit oder Gesundheit, es war mein Leben , mein Gefühl für dieses Leben, das aus den Fugen geriet.
Im Rückblick erkenne ich mein Unvermögen, mir helfen zu lassen, mein unfaires Verhalten denen gegenüber, die es versucht haben. Markus gegenüber. Damals bemerkte ich es nicht. Nach außen hin sah es aus, als bekäme ich die Sache allmählich in den Griff, aber dem war nicht so. Ich bekam nichts in den Griff, und die Beziehung zwischen Markus und mir verschlechterte sich dramatisch.
»Was bist du nur für eine Frau?«, schrie er mich eines Tages an, als Yannick weinte und ich ihm das Kind in die Arme drückte, kurz davor, ebenfalls in Tränen auszubrechen, weil ich nichts als Hilflosigkeit empfand, vollkommene Hilflosigkeit.
Ja, was war ich für eine Frau? War ich überhaupt eine? Die
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