Wildwasserpolka
weiter geradeaus. Die Straße ist menschenleer. Der Postwagen rollt ein Stück weiter, hält mit laufendem Motor zwischen einem Ärztehaus und einer physiotherapeutischen Praxis. Der Briefträger steigt aus und hält ein Paket in Händen. Einen Augenblick später ist er durch den Praxiseingang verschwunden.
Jetzt!
Schnell streife ich meinen Rucksack von den Schultern und fasse ihn oben am Griff, während ich erneut die Straßenseite wechsele. Ich laufe zu dem Postwagen, öffne die Fahrertür, werfe den Rucksack in den Beifahrerfußraum und springe auf den Fahrersitz.
Ein Laster donnert an mir vorbei, ich trete aufs Gas und hänge mich in seinen Lärmschatten. Im Rückspiegel erblicke ich eine große, dunkelhaarige Frau, die gerade auf die Straße getreten ist; ihr Blick folgt mir.
Da ist sie also.
Ich rausche an dem geparkten Mini vorbei, setze hinter der Kurve am Ortsausgang zu einem waghalsigen Überholmanöver an, lasse den Lkw hinter mir. Kalter Schweiß rinnt mir den Rücken hinab, die Beule am Hinterkopf pocht. Ich reiße mir die Mütze herunter und scheuere mir mit dem Handrücken die Farbe von den Lippen, bis sie brennen, trommle wie wild aufs Lenkrad.
Wer wagt, gewinnt! Diese Runde geht an mich, doch das Spiel ist nicht vorbei. Mit dem geklauten Postauto wird es kaum länger als eine Viertelstunde dauern, bis sie mich schnappen. Mir bleibt nicht viel Zeit.
Ich könnte in den nächsten Feldweg einbiegen und zu Fuß flüchten, was vermutlich das Vernünftigste wäre, sofern man in meiner Situation überhaupt von Vernunft sprechen kann. Aber rechter Hand bremst mich das Flussufer aus, links grüßen hügelige Wiesen und Äcker. Sonst nichts. Sie werden mich bald eingeholt haben: die Polizei, die Behrendt, wer auch immer. Und nie wieder wird sich mir eine günstigere Gelegenheit für meinen Zustelltrick bieten.
Ich passiere ein winziges Dorf, das man von der Hauptverkehrsstraße aus komplett überblickt. Also weiter, durch das nächste Dorf, das nicht anders aussieht. Nach ungefähr acht Kilometern endlich eine größere Ortschaft: Dattenfeld. In diesem beschaulichen Feriendorf habe ich mal einen Familienvater ausfindig gemacht, der hier Ruhe vor den Unterhaltsansprüchen seiner Exfrau und der drei Kinder suchte.
Ich biege in eine Seitenstraße ein, muss jedoch sofort feststellen, dass ich nicht die beste Wahl getroffen habe. Wo ich ein Wohnviertel vermutete, finde ich ein rustikales kleines Schloss vor, schräg gegenüber befindet sich eine Art Park. Ich gebe Gas, versuche mein Glück an der nächsten Kreuzung. Endlich ein Wohngebiet. Ich entscheide mich blitzschnell für einen roten Corsa, beziehungsweise für das Haus, in dessen Einfahrt er parkt. Unmittelbar neben der Einfahrt halte ich am Straßenrand, schäle mich zügig aus dem schwarzen Mantel, greife mir ein Paket aus dem Stauraum und steige aus. Ich gehe auf die Haustür zu, betätige die Klingel, beiße mir auf die Lippen und zähle in Gedanken bis zehn. Bei elf öffnet eine Dame in fortgeschrittenem Alter.
»Guten Tag, ein Paket für Sie!«, flöte ich.
Sie beäugt mich ungläubig und meint, sie habe gar nichts bestellt.
»Tja«, erwidere ich leichthin. »Vielleicht möchte Sie jemand überraschen!«
Die Frau wirft einen misstrauischen Blick auf das Paket. »Ich mag keine Überraschungen.«
Wenn wir da nicht etwas gemeinsam haben.
»Darf ich mal sehen?«, fragt sie jetzt auch noch. Notgedrungen reiche ich ihr das Päckchen.
Sie starrt eine schiere Ewigkeit auf den Adressaufkleber, bevor sie eingesteht, ihre andere Brille holen zu müssen. Kein Problem, Lady. Lass dir ruhig Zeit. Besser kann es gar nicht laufen, denke ich – mit der unbedeutenden Einschränkung, dass ich in diesem picobello in Schuss gehaltenen 50er-Jahre-Flur nirgendwo einen Schlüsselbund entdecke.
»Sorry«, flüstere ich dem traurigen Jesus über der Dielentür zu und öffne die Schublade eines Sekretärs. Ein Telefonbuch aus dem Jahr 1998, ein gestärktes Spitzentüchlein und einen Kamm, dem drei Zacken fehlen. Keine Autoschlüssel.
Ich höre die Frau zurückkommen.
»Entschuldigen Sie bitte!«, rufe ich ihr entgegen. »Ich habe gerade nochmals auf Ihr Namensschild geschaut, es war ein Irrtum meinerseits.«
Sie bleibt im Türrahmen unter dem Kreuz stehen, ohne etwas zu sagen. Ihr Kinn zittert leicht.
»Ich bin nur die Urlaubsvertretung«, rechtfertige ich mein Ungeschick, wünsche ihr einen schönen Tag und ziehe die Tür hinter mir zu.
Verdammt! Die
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