Wildwasserpolka
sich. Ich gelange in ein ländliches Wohnviertel, beschließe aber, bis in den Ortskern vorzudringen. Was ich jetzt dringend brauche, ist Koffein, und zwar in flüssiger Form und möglichst heiß.
Erneut passiere ich eine Brücke, entdecke kurz dahinter das Schild ›Kurparkcafé‹. Klingt nach schwatzhaften Omas mit schlechten Augen, die nicht mehr so genau hinschauen, und nach einer anständigen Tasse Kaffee. Ich kann nicht widerstehen.
Gerade tritt ein Mann im weißen Hemd aus der Eingangstür, die Zigarette griffbereit. Ergebnislos tastet er seine Taschen ab; ich erbarme mich und gebe ihm Feuer. Zum Dank sagt er etwas, das ich nicht verstehe, und hält mir die Tür auf.
Ich betrete einen behaglich wirkenden Flur, in dem Kerzen brennen. Eine dunkelhaarige Bedienung kommt mir entgegen, grüßt freundlich und führt mich in den Speiseraum. Wo ich plüschigen Schick aus den 70ern des vergangenen Jahrhunderts erwartet hatte, treffe ich auf ein frisches, modernes Ambiente mit Stil. Die schwatzhaften Omas hingegen sind hier reichlich vertreten, und sie alle tragen Schwarz. Eine Beerdigungsgesellschaft. Ausgerechnet!
»Dort hinten ist noch ein Platz frei!« Die Dunkelhaarige deutet auf einen der langen Tische, an dem bereits einige Damen und ein einzelner Herr sitzen.
»Einen anderen Raum gibt es nicht?«, wage ich zu fragen. Sie betrachtet mich genauer, und endlich scheint es ihr zu dämmern: dunkle Brille, dunkler Schal, dunkle Jacke. Und dazu klobige, verdreckte Wanderschuhe. »Sie gehören nicht dazu?«
Wie man’s nimmt, möchte ich antworten. Schließlich habe ich heute auch schon einem Begräbnis beigewohnt. Zwar handelte es sich eher um eine Art Seebestattung, aber Beerdigung bleibt Beerdigung, und gegen einen kleinen Totenschmaus hätte ich nun wahrlich nichts einzuwenden. Der größte Schrecken ist inzwischen verdaut, und jetzt habe ich einen Mordshunger.
»Nein, ich gehöre nicht dazu«, bedauere ich.
»Tut mir leid, wir haben heute eine geschlossene Gesellschaft.«
»Und Sie hätten nicht ein winziges Tässchen Kaffee für mich übrig?« Ich probiere es mit einem treuherzigen Augenaufschlag. Zwar könnte ich mich kaum auffälliger verhalten, um dieser Frau im Gedächtnis zu bleiben, doch bei der Vorstellung, das koffeinhaltige Granulat in meinem Rucksack lutschen zu müssen, packt mich die schiere Verzweiflung.
Sie spürt offenbar meine Not und gibt sich einen Ruck. »Kommen Sie!«
Ich werde in eine Art Separee geführt, einen winzigen Raum mit zwei Tischen, in dem ich der einzige Gast bin. Dankbar ziehe ich mir einen Stuhl heran.
»Sind Sie gewandert?«, fragt mich meine Gastgeberin.
Wandern klingt gut, denke ich und nicke; es lässt auf eine zünftige, ehrliche, harmlose Zeitgenossin schließen, die sich ihren Kaffee und ihr Stückchen Kuchen redlich verdient hat.
»Gefällt Ihnen der Natursteig?«
Ich gehe davon aus, dass sie den neuen Wanderweg entlang der Sieg meint. »Der hat’s ganz schön in sich!«, behaupte ich aufs Geratewohl und denke dabei an die beträchtlichen Steigungen beidseitig des Flussufers, die für diesen Landschaftsabschnitt charakteristisch sind. »Aber die Natur: einmalig!«, beeile ich mich hinzuzufügen. Es ist nie verkehrt, jemandem zu sagen, dass er sich eine schöne Gegend zum Leben ausgesucht hat. Die Frau stimmt mir strahlend zu und erkundigt sich, ob ich etwas essen möchte.
»Sehr gern. Ich nehme, was Sie haben.«
»Das müssen Sie wohl«, meint sie lächelnd und geht.
Prompt kommt der Kaffee, dazu ein belegtes Brötchen und eine Rosinenschnecke. Perfekt.
›Vergangenheit ist Geschichte, Zukunft ist Geheimnis, aber jeder Augenblick ist ein Geschenk‹, steht in Riesenlettern an der Wand geschrieben. Nun, so manchen Augenblick könnte ich mir schenken, und auf zukünftige Geheimnisse bin ich ebenfalls nicht scharf, aber in eben diesem Moment erfasst mich eine angenehme körperliche Schwere, ich fühle mich seltsam gelöst. Zum ersten Mal seit mehr als 36 Stunden.
Das Gefühl verfliegt schnell, vermutlich haben meine Adrenalinspeicher die Pause genutzt, um ordentlich vollzutanken. Ich greife ins Außenfach des Rucksacks und ziehe mein Notfallhandy heraus. Es ist ein uraltes Ding, das längst durch ein internetfähiges Smartphone ersetzt werden sollte. Sollte. Wie sein Name schon sagt, ist es für absolute Notfälle gedacht, falls ich beispielsweise fürchten muss, mein Handy wird von finsteren Mächten abgehört, oder ich während eines Einsatzes in
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