Wildwasserpolka
Gevatter Tod einholen, und ich brauche nicht einmal die Augen zu schließen. Er wird mich packen und mit sich reißen. Geradewegs in die Hölle.
Tief durchatmen. Ruhe bewahren. Einen Moment entspannen.
Nein, ich werde nicht sterben! Zumindest nicht in dieser Grube. Ich habe die vielen Menschen gesehen, die auf dem Gelände ein und aus gingen, die Besuchergruppe, die aus dem Stollen kam. Möglicherweise werde ich hier die Nacht verbringen, aber morgen oder spätestens übermorgen wird mich jemand finden – mich und die tote Galina.
Dann hat das Versteckspiel ein Ende.
Hätte ich nur das Feuerzeug aus dem Rucksack genommen! In meiner Verzweiflung ziehe ich noch einmal das Handy aus meiner Tasche. Kein Licht. Nichts.
Mühsam rappele ich mich auf, taste mich voran, langsam, unendlich langsam diesmal. Ich sehe nichts, absolut nichts, und kann mir nicht einmal sicher sein, nicht beim nächsten Schritt in einen Abgrund zu stürzen. In einer Mine, in der über die Jahrhunderte auf verschiedensten Ebenen nach Erz geschürft wurde, dürfte es reichlich Abgründe geben. Zentimeterweise arbeite ich mich vorwärts, Schritt für Schritt, ertaste Holzgebälk, Stahlträger, Mauerwerk, Rohre, und immer wieder nackten Fels. Ich weiß nicht, ob ich nur Minuten oder bereits Stunden unterwegs bin, weiß nicht, woran ich mich orientieren soll, wenn das Licht fehlt, die Geräusche. Unter der Erde bleibt alles gleich: die Dunkelheit, die klamme Kälte, das dumpfe Tappen meiner Schritte. Den schwachen Schimmer inmitten der Schwärze tue ich zunächst als optische Täuschung ab, hervorgerufen durch das völlige Fehlen visueller Reize. Ich schließe für einen Moment die Augen, öffne sie wieder. Jetzt bin ich mir sicher: Irgendwo dort hinten lichtet sich die Schwärze. Mit neuer Energie arbeite ich mich vorwärts, weiter, weiter, dem grauen Licht entgegen, ertaste schließlich eine Tür. Ich drücke dagegen, sie schwingt auf. Und ich bin draußen.
Die Nacht erscheint licht gegen die Kohlenschwärze der Grube, nie erschien mir der Mond strahlender als in diesem Augenblick. Ich blicke zum Himmel auf, spüre die nächtliche Brise auf meinen Wangen, pumpe die frische, klare Luft in meine Lungen.
Waskovic hat mich nicht eingesperrt, sondern ist einfach gegangen. Galinas Wagen ist fort.
Wie unklug wäre es auch gewesen, mich einzuschließen! Man würde mich zwar mit meinem vermeintlichen Opfer antreffen, aber wer sollte mich eingeschlossen haben? Und warum?
Nein, es ist viel schlauer, mich laufen zu lassen, nachdem ich in der Grube gewesen bin und Galina entdeckt habe. Sie nicht lediglich entdeckt, sondern berührt habe, ihr helfen wollte und versucht habe, das raue Seil um ihren Hals zu lösen, an dem meine Hautzellen nur so kleben geblieben sind. Es ist viel schlauer, mich, die teuflische Mörderin, am Leben zu lassen. Ein toter Teufel ist keiner.
Fragt sich nur, aus welchem Motiv heraus ich das alles getan haben soll. Aber Waskovic ist nicht dumm, er wird längst eins parat haben, das er mir unterjubeln kann. Und es hat todsicher mit dem angeblich verschwundenen Geld zu tun.
22
Die Mitte der Nacht ist der Anfang des Tages.
Demokrit
Wenige Schritte vom Mundloch entfernt liegt etwas neben den Gleisen, die in den Stollen führen: Es ist die russische PB. Ich hebe sie auf, lausche. Drüben in der Tierpension bellt ein Hund auf und verstummt sogleich. Sonst ist alles ruhig.
Ich stecke die Waffe unter meine Jacke, werfe einen Blick auf die Uhr: halb zwei. Schnell zurück zu meinem Wagen, aber nicht durch den Wald – von Märschen im Stockfinstern habe ich für heute genug –, sondern die Straße entlang in Richtung Dorf. Am Sportplatz steht eine Tafel mit dem handgeschriebenen Hinweis ›Sonntag Heimspiel‹ am Straßenrand. Er kommt mir vor wie eine geheime Botschaft, die an mich gerichtet ist, eine letzte Nachricht Galinas, deren wahre Bedeutung ich leider nicht verstehe. Doch ich mag nicht weiter darüber grübeln, alles, was in diesem Moment von Bedeutung ist, sind trockene Klamotten. Die Kälte will nicht weichen, ich friere entsetzlich. Vermutlich habe ich schon vor Stunden gefroren, es aber nicht bemerkt. Mit zitternden Händen nehme ich das Tuch ab, das ich um den Hals trage, und binde es mir um Hüften und Nieren. Ich bin empfindlich, und eine Blasenentzündung wäre das Aus. Ich schließe den Reißverschluss meiner Jacke so hoch, dass mir der Kragen bis übers Kinn reicht. Gut, dass mich niemand sieht, blutend, nass und
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