Wildwasserpolka
vorausgesetzt, dieser Salzmann lebt noch.
Mir kommt eine Idee. Ich nehme mir Vanessas Handy vor, das ich gestern im Hotel eingesteckt habe, und sehe mir ihre Kontakte an, finde jedoch weder einen Eintrag unter ›Salzmann‹ noch unter ›Stefan‹. Ich gehe nochmals die Liste durch, konzentriere mich auf die Ziffern anstelle der Namen, und siehe da: unter ›Petra‹ werde ich fündig. Die Nummer ist identisch mit der, die Herbert mir gerade durchgegeben hat. Petra war wohl der Name von Salzmanns Frau, vermute ich. Nein, war er nicht. Herbert sagte eben, sie habe Sylvia geheißen. Folglich ein Deckname.
Ich denke einen Augenblick nach, ehe ich mit pochendem Herzen die Nummer wähle.
»Wo steckst du?«, raunzt mich eine knarzige Männerstimme an. Eine, die ich schon einmal gehört habe. »Ich hocke hier auf heißen Kohlen und warte auf dich, und du bist wie vom Erdboden verschluckt!«
Er lebt. Der Typ lebt noch! Und er hält mich für Vanessa, ganz klar. Ich lasse ihn einen Moment schmoren.
»Guten Morgen, Herr Salzmann!«, sage ich schließlich höflich und kann regelrecht spüren, wie ihm der Schreck in die Glieder fährt.
»Wer spricht da?«
»Das tut nichts zur Sache.«
»Geben Sie mir Vanessa, sofort!«
»Vanessa ist nicht hier«, erkläre ich. »Sie müssen schon mit mir klarkommen.«
»Wer sind Sie?!«
»Das verrate ich Ihnen, wenn wir uns treffen.«
»Kein Interesse.«
»Na, na, nicht so vorschnell! Ich weiß, wo Sie stecken, Salzmann, und wenn Sie nicht wollen, dass Waskovic oder einer seiner Clowns in fünf Minuten vor Ihrer Tür steht, tun Sie jetzt, was ich sage!«
»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden.«
»Wirklich nicht? Das ist schade. Waskovic ist nicht der Typ, der lange fackelt, das wissen Sie genauso gut wie ich.«
Schweigen. Offenbar hat ihn das letzte Argument zum Nachdenken gebracht.
»Was wollen Sie?«
»Wie ich schon sagte: Ich möchte Sie treffen. Sie haben drei Minuten, sich die Sache zu überlegen, ich sehe auf die Uhr. Entweder Sie kommen her, beantworten mir ein paar Fragen und wir teilen uns die Beute, oder Ihnen steht Besuch ins Haus.«
»Welche Beute?«, meint Salzmann, und nun gerate ich langsam ins Schwitzen. Was, wenn er gar nicht scharf auf das Geld ist, das Müller angeblich beiseitegeschafft hat? Wenn er nicht daran interessiert ist, weil er es nämlich längst an sich gebracht hat? Wenn Salzmann Vanessa vorsätzlich betrogen hat, sodass sie annahm, ich hätte das Geld? Dann weiß er, dass ich lüge. Möglicherweise weiß er auch, dass Waskovic sich die Beute zurückgeholt hat – oder dass es dieses Geld nie gab.
»Die Zeit läuft«, mahne ich, ohne auf seine Frage einzugehen, eine andere Möglichkeit bleibt mir ohnehin nicht. Und schließlich kriege ich ihn doch.
»Woher weiß ich, dass das keine Finte ist?«, meint er misstrauisch.
»Das können Sie nicht wissen«, antworte ich wahrheitsgemäß. »Aber Ihnen bleibt keine Wahl.«
Und dann sage ich ihm, dass er sich bereithalten soll, bis ich ihm den genauen Treffpunkt mitteile.
Zeit, meinen Rucksack noch einmal genauer unter die Lupe zu nehmen und mich ein bisschen frisch zu machen. Ein Blick in meinen Miniatur-Kosmetikspiegel lässt mich zusammenfahren: Ich sehe aus, als käme ich geradewegs aus dem Bundeswehr-Biwak. Das Gesicht ist dreckverschmiert und mit Schlammspritzern gesprenkelt, an Stirn und Haaren klebt getrocknetes Blut. Überhaupt die Haare: Ohne Mütze geht nichts mehr.
Ich greife mir einen Übertopf aus dem Regal, verlasse die Laube und hole Wasser aus der Regentonne.
Nach ein paar Minuten bin ich halbwegs wiederhergestellt. Meine Stirnverletzung habe ich unter der tief heruntergezogenen Schiebermütze verborgen, die ich in der Kirchener Boutique erworben habe, ebenso wie mein Haar. Mein Gesicht ist blass und sauber, und ein dezentes Make-up verhindert, dass ich so abgeschlagen aussehe, wie ich mich fühle. Ein Hoch auf Maskenbildnerin Anettes Profitricks im Kursmodul ›Typveränderung‹, die sogar aus einer Kartoffel eine blütenzarte Schönheit zaubern.
Ich werfe einen letzten Blick durch das Schuppenfenster, um mich zu vergewissern, dass sich kein von seniler Bettflucht geplagter Rentner durchs Kartoffelbeet wühlt, öffne die Tür und schleiche durch das taubenetzte Gras davon.
Im rosigen Licht des jungen Morgens wandere ich die Straße hinauf, einem neuen, ungewissen Tag entgegen.
23
Wer flieht, kann später wohl noch siegen. Ein toter Mann bleibt ewig liegen.
Samuel
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