Wildwasserpolka
Denise schon mit dem Leihwagen hier ist, aber etwas Besseres fällt mir nicht ein. Leider hält gerade kein Zug, wie ich heimlich gehofft hatte. Verdammt, was mache ich jetzt? Ich renne weiter, an dem markanten roten Gebäude vorbei, auf den Busbahnhof zu. Ein Bus fährt gerade an, stoppt dann, um auf die Hauptstraße einzubiegen. Ich rufe, winke wie wild, und tatsächlich: Die Tür öffnet sich, der Fahrer lässt mich einsteigen. In dem Moment, in dem er wieder anfährt, kommen meine Verfolger um die Ecke, und ich fange Vanessas wütenden Blick auf. Wir starren einander durch die Scheibe an, ich zücke ihr Handy und schieße ein Foto. Klick.
Ob ich eine Fahrkarte bei ihm kaufen könne, frage ich den Busfahrer und versuche, nicht zu wirken, wie jemand, der gerade um sein Leben gerannt ist, was mir nur leidlich gelingt. Wo ich denn hinwolle, fragt er zurück. »Endstation«, sage ich vorsichtshalber und strecke ihm einen 20-Euro-Schein entgegen. Es habe Zeit bis zur nächsten Haltestelle. Auch gut. Hauptsache, er tritt aufs Gas. Schnaufend lasse ich mich in die erste Sitzreihe plumpsen.
Was will Vanessa von mir? Rache wegen der Aktion gestern im Hotel? Oder ist sie entgegen meiner Beteuerungen weiterhin überzeugt, ich hätte das Geld, von dem sie gesprochen hat? Ich bin mir ziemlich sicher, es geht um Letzteres, und die beiden werden nicht so schnell aufgeben. Für den Moment habe ich sie zwar abgehängt, aber sie haben gesehen, dass ich in den Bus gestiegen bin und um welche Buslinie es sich handelt. Sie brauchen sich nur die Route einzuprägen, oder, noch einfacher, sie mit dem Handy am Haltepunkt zu fotografieren, um sich flugs ins Auto zu setzen und dem Bus hinterherzufahren. Da es am Siegufer keine Parkmöglichkeiten gibt, muss ihr Wagen hier irgendwo in der Nähe abgestellt sein. Sie werden folglich nicht lange brauchen, um ihn zu holen. Zwar habe ich noch immer den Schlüssel von Vanessas neuem Mini in der Tasche, aber ich schätze, die Krawallhose wird ihr einen Ersatzschlüssel nach Freudenberg gebracht haben. Ich glaube auch, er ist nicht mit Bus und Bahn angereist, sondern mit seinem eigenen Schlitten vorgefahren, weshalb sie vermutlich sogar über zwei Fahrzeuge verfügen. Es wird nicht lange dauern, bis sie den Bus eingeholt haben, und dann brauchen sie sich nur in seinen Windschatten zu hängen und abzuwarten, bis ich aussteige – was spätestens an der Endstation der Fall sein wird.
Tue das Unerwartete! Als der Bus kaum eine Minute später die nächste Haltestelle ansteuert, steige ich aus. Erst als ich auf der Straße stehe, registriere ich, wo ich gelandet bin: in Altwindeck, kaum einen Kilometer entfernt von der Stelle, an der ich Müller im Teich versenkt habe. Alles auf Anfang. Ein verdammter Teufelskreis.
Hektisch schaue ich mich um. Wenn ich nicht zusehe, dass ich hier wegkomme, nützt mir meine schnelle Ausstiegstaktik gar nichts. Ich haste die Straße entlang, biege in einen Feldweg ein, renne quer über einen Acker, stoße wieder auf einen Weg, weiter, immer weiter, im großen Bogen auf den nahen Wald zu. Doch bevor ich ihn erreiche, gelange ich erneut auf die Dorfstraße. In dem Moment, in dem ich die Straße überquere, biegt in etwa hundert Metern Entfernung ein Mini um die Ecke. Vanessas Mini. Ich stürze auf die andere Straßenseite, einen schmalen Weg entlang, erreiche schließlich den Wald und schlage mich sofort ins Unterholz. Sie sollen gar nicht erst die Gelegenheit bekommen, mir zu folgen.
Es geht steil bergauf, und bald bin ich völlig aus der Puste. Ich bleibe kurz stehen, um zu verschnaufen und mich des Beerdigungsmantels zu entledigen, den ich in meinen Rucksack stopfe. Dann setze ich meinen strammen Marsch fort, durchquere Nadelwald, Laubwald, wieder Nadelwald, stoße irgendwann auf eine große Schneise. Erschöpft lasse ich mich auf einen Baumstumpf sinken, denke einen Moment nach, beschließe, mich westlich zu halten und zu versuchen, einen Bogen zurück nach Schladern zu schlagen. Wo hoffentlich der Mietwagen auf mich wartet.
Ich rapple mich hoch, sehe zu, dass ich die ungeschützte Schneise passiere, gelange erneut in den Wald. Unter das Vogelgezwitscher mischen sich plötzlich Stimmen. Ich bleibe stehen, lausche, gehe einige Schritte weiter und entdecke in geringer Entfernung eine Gruppe von Reiterinnen mit ihren Pferden. Sie bewegen sich allerdings nicht vorwärts, sondern sitzen im Sattel und lassen ihre Tiere grasen. Zwei der Frauen sind abgestiegen und nehmen
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