Wildwasserpolka
verkündet er.
Ich denke einen Augenblick nach. Der Kerl hält sich seit Tagen vor Waskovic versteckt, weil er um sein Leben fürchtet. Nachdem die Polizei Müllers blutbeschmierten Wagen entdeckt hat, interessiert sie sich vermutlich ebenfalls für ihn – was ihm nicht recht sein kann. Es wäre tatsächlich töricht, sich unter diesen Umständen ins Auto zu setzen. In eines, dessen Kennzeichen bekannt ist.
»Nehmen Sie sich ein Taxi«, sage ich.
»Nein, das tue ich nicht. Auf keinen Fall komme ich ohne eigenes Fahrzeug irgendwohin.«
Was ich verstehen kann. Wenn er flüchten muss, wird’s eng. Und sollte man ihn schnappen, dann vielleicht gerade hier. Dann steht entweder die Sesamstraßen-Gang oder die Polizei auf der Matte. Nein, es ist vermutlich klüger, unser Treffen auf einen Zeitpunkt nach Einbruch der Dunkelheit zu verschieben. »Gut, ich erwartete Sie um acht«, sage ich.
»Da ist es noch hell«, widerspricht er erneut.
»Also schön, um neun Uhr, das ist mein letztes Wort. Und sehen Sie zu, dass Sie bis dahin Ihre Nummernschilder manipuliert kriegen. Nicht, dass Sie hier noch in Begleitung auftauchen.«
Nach dem Gespräch ziehe ich mich ins Bad zurück, setze mich in die Duschwanne und lasse mich vom heißen Wasser berieseln, bis mir Schwimmhäute wachsen. Auf dem Regal am Waschbecken finde ich ein Töpfchen handgefertigte Körperbutter vor, mit der ich meinen zerschundenen Körper verwöhne. Nach Kokos, wilder Geranie und Wer-weiß-was duftend, kehre ich schließlich ins Wohnzimmer zurück, lasse mich mit einer Tasse Tee auf dem Sofa neben dem Esstisch nieder und lege mein Bein hoch.
Wenn er schnell ist, kann er in weniger als 30 Minuten hier sein, überlege ich. Er muss sich nicht an die Uhrzeit halten, die wir ausgemacht haben. Vielleicht geht er das Tageslichtrisiko ja doch ein, um den Überraschungseffekt auf seiner Seite zu haben und mich zu überrumpeln. Wichtig ist, das Haus vor seiner Ankunft zu verlassen, was leider bedeutet, dass ich sofort vor die Tür gehen und dort unter Umständen fünf Stunden auf ihn warten muss. Das schaffe ich nicht. Ich bin todmüde, und die Nacht wird lang, fürchte ich. Geradezu gegen meinen Willen rolle ich mich auf dem Sofa zusammen, die PB auf dem Kopfkissen neben mir, und bin augenblicklich eingeschlafen.
Als ich aufwache, ist es bereits früher Abend. Immerhin – einen Überraschungsbesuch hat mir Salzmann bislang nicht abgestattet. Ich stehe auf, humpele zu dem Radio auf der alten ›Singer‹-Nähmaschine und stelle den Regionalsender ein. Gerade hat eine gewisse Heike vergeblich versucht, das geheimnisvolle Geräusch zu erraten. Vermutlich hat sie auf ein geköpftes Ei getippt.
Endlich Nachrichten: Keine Leiche im Dorfteich, keine Leiche im Bergwerksstollen, aber wenig später doch noch eine Meldung mit Unterhaltungscharakter: In der Nutscheid, einem Waldgebiet bei Dattenfeld in der Gemeinde Windeck, habe eine unbekannte Frau eine Gruppe von Reiterinnen mit einer Waffe bedroht, deren Hund erschossen und anschließend eines der Pferde entwendet. Dieses habe man allerdings wenig später wohlbehalten vor dem heimatlichen Stall vorgefunden. Über die Hintergründe dieser mysteriösen Tat und die Täterin selbst sei bisher nichts bekannt.
Na prima. Vanessa und die Krawallhose sind fein raus, nur ich muss mal wieder dran glauben. Und soll anstelle der gelben Bestie einen völlig unschuldigen Hund erschossen haben. Wie jeder weiß, ist das hierzulande schlimmer als Mord.
Um Punkt acht Uhr stülpe ich mir wieder meine schwarze Perücke über und trete vor die Tür.
Die Sonne steht bereits tief, ein glühender Ball, der Wiesen und Wälder in goldenes Licht taucht. Auf seltsame Weise scheint die Relation zwischen Nah und Fern aufgehoben, alles ist gleichrangig: ein einsamer Baum, ein Grasbüschel, der Wald. Dann erlischt der Goldglanz, die Dinge rücken an ihren angestammten Platz, und wie eine samtene Decke senkt sich die Dämmerung über das Land. Fern über den Hügeln zeichnet sich scherenschnittartig Burg Windeck gegen den Himmel ab. In ihrer kantigen Kompaktheit erinnert sie an einen überdimensionalen Grabstein – einen Grabstein für Müller, der im Teich zu ihren Füßen ruht.
Keine melancholischen Todesfantasien!, bremse ich mich. Erst muss ich herausfinden, von welcher Ecke aus ich Salzmann am besten überrumpeln kann.
27
Was der Abend bringt, ist ungewiss.
Titus Livius
Um elf Minuten vor neun fährt ein dunkler Kleinwagen mit
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