Wildwasserpolka
entlang, besinne mich anders, überwinde den Zaun und schlage mich durchs Gebüsch, auf den nächsten Wall, die nächste Ruine zu, suche Zuflucht hinter schützenden Mauern. Als ich um die Ecke spähe, sehe ich Vanessa Ausschau haltend auf dem Hügel neben der Tanne stehen. Die Krawallhose entdecke ich nicht, aber ich höre sie rufen.
»Da hinten muss sie sein!«
Sofort springt Vanessa den Wall herunter und rennt los. Sie steuert allerdings nicht direkt auf mich zu, sondern läuft in Richtung Rundweg.
Ich atme tief durch, löse mich von der schützenden Mauer und hetze über offenes Gelände, parallel zum Bachlauf, der sich durch das Tal windet, durchein Meer sternförmiger gelber Scharbockskrautblüten.
Ich habe nicht einmal die Hälfte der Strecke bis zum nächsten Gebäude geschafft, als Vanessas Stimme hinter mir gellt. »Da ist sie!« Und dann, offenbar an die Krawallhose gerichtet: »Nun steig schon über diesen blöden Zaun! Sie muss in dem Loch sein!«
Gott sei Dank. Sie haben nicht mich, sondern nur den Sender entdeckt. Aber das wissen sie noch nicht.
Ich kämpfe mich durch dichtes Gestrüpp, unter dem sich Gesteinsbrocken verbergen. Dann wird der Boden morastig.
»Scheiße, hier ist nichts!«
»Das kann doch nicht sein!«
»Halt die Fresse!«
»Halt sie doch selbst, Arschloch! Hättest du auf mich gehört, wären wir dem Gaul hinterhergefahren!
»Wenn ich die Schlampe erwische, dreh’ ich ihr den Hals um! Die knallt einfach meinen Hund ab, ist das zu fassen?!«
Vorwärts, hinter das nächste Bollwerk. Die Treppe am Ende des Taleinschnitts, die zurück auf den Hauptweg führt, ist weithin sichtbar. Mit meinem lahmen Bein werde ich einige Zeit brauchen, bis ich oben bin. Aber noch sind die beiden abgelenkt. Ich höre wieder ihre Stimmen, höre sie rufen, wenngleich ich ihre Worte nicht verstehe.
Mir bleibt keine andere Wahl. Ich humpele auf die Treppe zu, nehme Stufe um Stufe, erreiche den Hauptweg, renne wieder, passiere eine Obstwiese und erreiche bald den Rand des Dorfes. Wenn ich mich nicht täusche, befinde ich mich jetzt in Dattenfeld, ganz in der Nähe jener Straße, in der ich das Mutter-Kind-Fahrzeug gestohlen habe.
Am Abzweig zum Elisental steht ein Paar mit seinen E-Bikes. Offenbar wollen sie der Pulvermühle einen Besuch abstatten und diskutieren über den Weg.
»Sie sind hier schon richtig«, mische ich mich ein. »Aber die Räder lassen Sie besser stehen.«
»Warum? Wir können doch schieben, wenn’s sein muss«, widerspricht die Frau.
»Trotzdem lassen Sie die Räder lieber hier.«
»Das ist mir zu riskant«, sagt die Frau. »Wissen Sie, was die Dinger kosten? Komm, Wolfgang, wir fahren weiter!«
Nein, Wolfgang, das wirst du nicht tun. Ich zücke die PB, dieses Mal fast schon mit einer gewissen Selbstverständlichkeit.
»Ich brauche Ihr Rad«, sage ich ruhig. »Sie sehen doch, dass ich schlecht zu Fuß bin.«
Keine zwei Minuten später befinde ich mich auf der Straße nach Schladern und habe bald den Bahnhof erreicht. Denise hat Wort gehalten, der blaue Ford parkt dort wie besprochen. Ich stelle das Bike zwischen anderen Fahrrädern ab und sondiere unauffällig das Gelände. Die Luft scheint rein zu sein.
Der Schlüssel liegt am vereinbarten Platz, der Wagen ist vollgetankt, warm und blitzsauber. Wunderbar.
Auf dem Beifahrersitz liegt eine ausgedruckte Wegbeschreibung zum Ferienhaus, für alle Fälle. Denise hat mal wieder an alles gedacht.
Ein Streifenwagen passiert langsam das Bahnhofsgelände, hält aber nicht an. Kurz darauf kommt mir erneut ein Streifenwagen entgegen. Die Pferdefrauen scheinen ordentlich Rabatz gemacht zu haben.
Die Fahrt dauert nur ein paar Minuten. Ich erreiche Langenfeld, steuere jedoch absichtlich nicht sofort mein Ziel an, sondern kurve noch einmal durch den Ort. Vor einem Gebäude, das ein Schild als buddhistischen Tempel ausweist, halte ich an. Kein Mensch weit und breit. Ich reinige meine Schuhe mit einem Papiertaschentuch und einem Schluck Mineralwasser aus der Flasche, die Denise mir ins Auto gelegt hat, zupfe mir die Pferdehaare von der Hose, krame meinen Beerdigungsmantel hervor, setze die stets gut frisierte schwarze Echthaarperücke auf und male mir sorgfältig die Lippen rot in der Hoffnung, als typischer Stadtmensch auf Landflucht durchzugehen. Und nicht mit jener Verrückten in Verbindung gebracht zu werden, die in den Wäldern der Nutscheid herumballert und Rentnern mit vorgehaltener Waffe ihre E-Bikes unterm Hintern
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