Wildwood - Das Geheimnis unter dem Wald: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
rechts und links ragten hoch über ihren Köpfen auf und mündeten ungefähr auf der Höhe eines Basketballkorbs in der gewölbten Decke. Die Steine, aus denen sie gemauert waren, sahen aus, als wären sie sorgfältig von Hand und mithilfe von uraltem Werkzeug in eine passende Form gemeißelt worden. Prue fragte sich, was für Hände dieses Werk wohl ausgeführt hatten: Es musste unendlich lang gedauert haben, auch nur einen kleinen Abschnitt dieses Tunnels zu bauen. Sie stellte sich die Geschöpfe vor, Menschen und Tiere, die vielleicht Jahrhunderte gebraucht hatten, um allein diesen einzelnen Gang so tief unter der Erde zu errichten. Das Gewölbe musste von ihrer Arbeit, von ihren Liedern widergehallt haben.
Curtis bildete mit Septimus das Schlusslicht und drehte sich immer wieder um, damit nicht tatsächlich die Schlange, von der die Ratte unablässig sprach, plötzlich von hinten angriff. Die Szene aus Conan, der Barbar , in der sich James Earl Jones in eine riesige Kreatur mit gemeinem Gebiss verwandelte, war unauslöschlich in sein Gehirn eingebrannt, seit er den Film vor ein paar Jahren mit seinem Vater gesehen hatte. Wobei er möglicherweise gar nicht solche Angst bekommen hätte, wenn es tatsächlich James Earl Jones wäre, der sich von hinten anschliche und in eine giftige Schlange verformte. Eigentlich könnte das auch cool sein. Vor allem, wenn er sprechen würde, denn dann könnte man mal seine Stimme in echt hören. Und ehe er sichs versah, murmelte Curtis mit verstellter Stimme vor sich hin: »Sie haben mich zum letzten Mal enttäuscht, Admiral.«
»Was?« Prue blieb stehen.
»Verzeihung. Hab ich das laut gesagt?« Durch den Hall in dem Gewölbe hatte seine Stimmenimitation tatsächlich einigermaßen echt geklungen.
»Komm, ich glaube, ich sehe da vorne was«, sagte Prue.
Etwa zehn Meter vor ihnen endete der Gang in einer T-Kreuzung. Aus einem Loch im Mauerwerk tröpfelte ein Rinnsal. Mitten in die endlose Abfolge grauer Steine war ein andersartiger gesetzt worden: die Spirale, die sie inzwischen schon kannten. Darunter hatten die Erbauer des Tunnels außerdem zwei weitere, im Laufe der Zeit verblasste Muster eingeritzt, nämlich auf einen Stein einen Kreis, auf einen anderen ein Dreieck. Prue und Curtis betrachteten diese Symbole eine Zeit lang, nacheinander traten sie näher und wischten den Dreck aus den Gravuren.
»Ich bin eher für Dreieck«, sagte Curtis. »Obwohl Kreis auch extrem verlockend ist.«
Prue schwieg. Sie hielt die Laterne hoch und spähte nach rechts und links; beide Richtungen sahen genau gleich aus.
»Du glaubst aber nicht, dass Kreis vielleicht Klo bedeutet, oder?«, fragte Curtis. »Ich hätte in dem Höhlensee machen sollen, aber es war einfach zu kalt.«
»Du steckst in einem verlassenen Tunnelsystem«, bemerkte Septimus, der sie nun eingeholt hatte. »Ich würde mal sagen, du kannst als Nachttopf benutzen, was du willst.«
Ohne ein Wort bog Prue nach links in den Gang mit dem Kreissymbol. Curtis folgte ihr, Septimus auf der Schulterklappe.
»Wie hast du das jetzt entschieden?«, wollte Curtis wissen.
»Nur so eine Ahnung.«
Es kamen noch weitere solche Kreuzungen, und mit jeder wurde noch willkürlicher, welche Richtung sie einschlugen. Ein paar Mal landeten sie in Räumen ähnlich dem, in den sie anfangs abgestürzt waren, und dann machten sie einfach kehrt und nahmen den anderen Gang. Da sie ohnehin nicht durch einen brauchbaren Eingang gekommen waren, sondern durch ein Loch am Boden einer abgrundtiefen Schlucht, hatte Prue geschlussfolgert, dass es eigentlich keine Rolle spielte, in welche Richtung sie gingen oder ob sie die Orientierung behielten. Das hatte sie auch zu Curtis und Septimus gesagt, während sie an einer Kreuzung Pause machten und sich einen weiteren Streifen Trockenfleisch teilten. Für Curtis klang das danach, dass sie im Prinzip einfach weiterliefen, bis ihnen entweder das Essen ausging und sie verhungerten oder sie einen Ausgang zur Oberfläche entdeckten. Was auch immer zuerst einträfe. Das jagte ihm einen Schauer über den Rücken.
Schließlich, nachdem sie mehrere Stunden durch das Labyrinth gewandert waren, bemerkten sie, dass die Wände des Tunnels sich plötzlich öffneten und eine kühle Brise über sie hinwegwehte. Sie streckten die Laterne hoch in die Luft und sahen, dass sie in einem riesigen Raum ohne erkennbare Decke oder Fußboden standen, und dass der Steinweg, auf dem sie liefen, in Wirklichkeit eine Brücke auf die andere
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