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Wildwood - Das Geheimnis unter dem Wald: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)

Wildwood - Das Geheimnis unter dem Wald: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)

Titel: Wildwood - Das Geheimnis unter dem Wald: Roman (Heyne fliegt) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Meloy , Carson Ellis
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die den Steinpfad zur Pagode fegte, hielt inne, um sie zu begrüßen. Der entsetzte Blick des Vogels reichte, um der Frau zu sagen, dass sie wahrscheinlich furchtbar aussah. So fühlte sie sich auch. Ihr Arm hing schwer in einer notdürftig aus Ästen gebastelten Schiene an der Seite herunter. Das linke Bein schmerzte wegen eines leuchtenden Blutergusses auf dem Oberschenkel, der chamäleonartig jede Farbe des Regenbogens durchlaufen hatte. Ihr Kaftan war völlig zerrissen, und sie wusste, dass sie getrocknete Blutspuren im Gesicht hatte.
    Der alte Mann erwartete sie auf der obersten Stufe. Sein uraltes Gesicht verriet keine Empfindung, er betrachtete sie so teilnahmslos, wie man den Postboten oder einen Fremden auf der Straße betrachten würde. Als sie die Hälfte der Treppe erklommen hatte, fiel sie auf ein Knie.
    »Es ist vollbracht«, sagte der alte Mann.
    Darla fiel es schwer, ihm in die Augen zu sehen. »Die alte Mystikerin, ja. Die Mischlingskinder sind … wahrscheinlich tot.«
    »Der Auftraggeber hat seine Zufriedenheit übermittelt.«
    Darla hob den Kopf. »Zufriedenheit?« Sie zögerte, suchte nach den richtigen Worten. »Ich kann die Tötung nicht guten Gewissens bestätigen.«
    »Was ist geschehen?«
    »Sie sind in die Lange Schlucht gestürzt. Ich konnte ihnen nicht folgen.«
    »Komm herein, Darla«, sagte der alte Mann. »Ruhe dich aus.«
    Innen verströmte ein Kohlefeuer rotglühende Hitze. Der zentrale Raum der Pagode war asketisch eingerichtet: An den Wänden standen einige Bänke, auf dem Boden lagen gewebte Matten. Der alte Mann hob den Saum seines schlichten, dunkelroten Mantels an und setzte sich auf eine der Matten. Mit einiger Mühe kniete Darla sich vor ihn hin.
    »Woher weiß der Auftraggeber es?«, fragte sie.
    »Offenbar hören die Intuiten, diejenigen, die dem Wald lauschen, nicht länger ihre Gegenwart.«
    »Heißt das, wir sind entlassen?«
    Der alte Mann knetete seine Fingerknöchel. »Ja«, sagte er schließlich. »Bis ich euch das nächste Mal benötige.«
    Darla legte die Hände vor der Brust zusammen und verzog dabei das Gesicht vor Schmerz. »Danke, Daimyo.« Dann stand sie auf und wollte die Pagode verlassen. Bevor sie allerdings die Tür erreicht hatte, hörte sie die Stimme des Alten erneut.
    »Darla.«
    »Ja, Daimyo?«
    »Wie sicher bist du?«
    Sie blickten einander in die Augen. Darla schwieg. Der Mann nickte.
    »Also gut«, sagte er. »Nehmen wir die Zufriedenheit des Auftraggebers nicht als Zeichen für die Beendigung des Auftrags. Wir werden wachsam bleiben.«
    »Ja, Daimyo.« Sie drehte sich um und ging.

    Alles war bereit. Sämtliche bestehenden Aufträge waren aufgeschoben, die Kunden mit der Erklärung vertröstet, dass die Fabrik generalüberholt werde, um sie auf den allerneuesten Stand der Maschinenteilfertigung zu bringen. Jede Maschine, die nach Unthanks Einschätzung nicht unbedingt für die vorliegende Aufgabe erforderlich wäre, wurde abgestellt. Gussformen wurden von ihren Gestellen genommen und eingelagert, und noch der letzte Winkel wurde von jeglicher Verunreinigung gesäubert, die den Herstellungsprozess beeinträchtigen könnte. Alle Waisen wurden von ihren zugewiesenen Plätzen abgezogen und in den Bereitschaftsdienst versetzt. Joffrey konnte nicht riskieren, diesen Bälgern irgendwelche Verantwortung zu übertragen. Absolute Perfektion bei jedem einzelnen Schritt, war notwendig, um etwas so Akkurates und Anspruchsvolles zu schaffen wie das Möbius-Zahnrad. Wenn es ihm gelänge – und er war immer noch nicht überzeugt, dass es überhaupt möglich war –, wäre es zweifelsohne die Krönung seiner beruflichen Laufbahn.



Desdemona beobachtete die Vorgänge schweigend. Sie half ihm, wo sie konnte, aber es war klar, dass dies eine Aufgabe war, die er selbst ausführen musste. Sie brachte ihm Krüge mit frischem Wasser in die Fabrikhalle und räumte seine halb aufgegessenen Butterbrote vom Schreibtisch. Sie weckte ihn um drei Uhr morgens, wenn er auf dem Stapel seiner angesammelten Notizen eingeschlafen war. Sie dachte gar nicht daran, den Verrat an ihrem Traum – dem Traum, den sie für ihren gemeinsamen gehalten hatte – zur Sprache zu bringen, sondern fraß ihn wortlos in sich hinein.
    Die Fabrikhalle war ohne den Trubel der arbeitenden Kinder nicht wiederzuerkennen. Jetzt stand Unthank fast allein in dem Raum, umringt nur von einigen wenigen Waisen, die so niedere Dienste verrichten durften wie ihm die Unterlagen, die Ergebnisse seiner Forschung,

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