Wildwood - Das Geheimnis unter dem Wald: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
der dafür bekannt war, neugierige Eindringlinge mit Haut und Haaren zu verschlingen. Eine kurze Untersuchung ihres Körpers ergab allerdings, dass sie noch unversehrt war. Ihre Füße waren kalt, und die Haut an der Nase fühlte sich wund an. Alles andere war offenbar in Ordnung. Elsie sah auf ihre Hände, die gerötet waren und vor geschmolzenem Schnee glitzerten. Sie blies darauf und spürte, wie ein warmes Gefühl in die Fingerspitzen zurückkehrte. Wie lange es her war, dass sie den braunen Bindfaden, den sie eigentlich festhalten sollte, fallen gelassen hatte, wusste sie nicht – ihre Erinnerung war irgendwie verschwommen. Sie fragte sich nun, ob sie die Schnur absichtlich losgelassen hatte oder ob sie ihr einfach aus der Hand geglitten war. Was auch immer, ihr Ziel stand ihr klar vor Augen: Sie musste ihre Schwester finden.
»RACHEL!«, schrie sie wieder. Noch immer keine Antwort. Sie spähte in die Ferne. Eine Schneise zwischen den Bäumen gewährte ihr freien Blick. Sie ging auf diese Schneise zu und entdeckte auf der anderen Seite eine große Wiese zwischen den Bäumen. Und mitten auf der Lichtung saß ein kleines weißes Kaninchen.
Das Kaninchen unterbrach seine Beschäftigung – es fraß gerade eine ausgegrabene Wurzel – und sah Elsie direkt an. Sie hatte schon Kaninchen in Zoogeschäften gesehen, und ihre Freundin Karma hatte einen kleinen Stall im Garten, aber an diesem speziellen Kaninchen kam Elsie irgendetwas seltsam vor. In seinen Augen lag eine sprühende Intelligenz, die sie bei anderen Tieren noch nie bemerkt hatte. Es zuckte ein paar Mal mit der Nase, wackelte mit den Ohren und hoppelte zum Rand der Wiese. Ehe es jedoch aus Elsies Blickfeld verschwand, blieb es stehen und sah sich zu ihr um, als wollte es, dass sie ihm folgte. Elsie tat ihm den Gefallen.
Wie in Trance stapfte sie hinter dem Kaninchen her, und es fiel ihr im Moment auch nichts Besseres ein. Sie hatte sich sowieso hoffnungslos in diesem Labyrinth aus Bäumen verlaufen, deshalb, dachte sie, spielte es keine Rolle, in welche Richtung sie ging. Außerdem verunsicherte sie, dass das Kaninchen ständig auf sie zu warten schien: Jedes Mal, wenn sie zu weit zurückfiel und dachte, sie hätte seine Spur verloren, sah sie das Kaninchen bei einem Farnstrauch stehen, mit der Nase zucken und sie anblicken. Sobald sie näher kam, lief es weiter.
Sehr weit waren sie noch nicht gegangen, als ein Geräusch aus dem Wald drang. Elsie hielt den Atem an und versuchte, das Pochen ihres Herzschlags in den Ohren zu ignorieren. Das weiße Kaninchen war ebenfalls stehen geblieben und spitzte die Ohren. Wieder erklang das Geräusch. Jemand rief eindeutig ihren Namen. Das Kaninchen erschrak, sprang ins Unterholz und war nicht mehr zu sehen.
»Nicht weglaufen!«, rief Elsie. Auf merkwürdige Weise hatte sie sich gezwungen gefühlt, dem Kaninchen zu folgen. Sie hatte geahnt, dass es ihr etwas zeigen wollte.
Wieder ertönte die Stimme, dieses Mal näher. Es war ihre Schwester. Elsie stand bis zu den Knien im Farnkraut und war einen Moment hin und her gerissen zwischen der sicheren Zuflucht der Stimme ihrer Schwester und dem seltsamen Locken des Kaninchens.
»Elsie!«, schallte es erneut durch den Wald.
»Rachel!«, rief Elsie. Sie wandte sich um und rannte auf die Stimme ihrer Schwester zu.
Sie stürmte zwischen ein paar jungen Kiefern hindurch, und in einem Zusammenprall von Armen und grünen Mänteln waren die beiden Schwestern wiedervereint. Nach einer langen Umarmung lösten sie sich schließlich voneinander.
»Geht es dir gut?«, fragte Rachel.
»Ja«, sagte Elsie, »ich glaub schon.«
Rachel betrachtete das Gesicht ihrer Schwester. Sie sah die Striemen auf ihrer Wange und die blutigen Abschürfungen an den Händen. »Du bist ja ganz zerkratzt«, sagte sie.
»Ich bin gerannt. Ich hatte solche Angst. Ich hab dich gesucht.« Elsie merkte, dass sie heftig zitterte.
»Schon gut, Schwesterchen«, beruhigte Rachel sie und strich ihr die Haare glatt, die vom Rennen durch den Wald völlig zerzaust waren. Kleine Zweige ragten hier und dort hervor wie Antennen, und Rachel zupfte sie vorsichtig heraus. »Hör mal. Du musst mir helfen, Brilli zu finden.«
»Wo ist sie?«
»Ich weiß es nicht. Sie war gleich hinter mir. Wir haben uns gefunden, direkt nachdem sie reingekommen ist. Der Plan war, dich zu suchen. Ich dachte, ich hätte dich rufen gehört, deshalb bin ich in diese Richtung gegangen, und dann war Martha plötzlich weg. Einfach
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