Wildwood
sie. »Er war nur ein paar Jahre älter, dieser Junge. Sein Geburtstag wäre im Juli gewesen. Er kam mitten im Sommer auf die Welt.« Ihre Augen wanderten von Curtis weg und fixierten einen Punkt über seiner Schulter. Curtis hörte kurz auf zu kauen und sah sich um; doch da war nichts.
Mit einem Lächeln riss die Gouverneurswitwe sich aus ihren Gedanken und wandte sich wieder an Curtis. »Wie schmeckt es dir?«, fragte sie.
Da er den Mund gerade voller Gemüse hatte, musste er rasch schlucken. Er zog sich einen kleinen Farnspross aus den Zähnen und legte ihn auf den Teller. »Sehr gut«, antwortete er endlich. »Obwohl diese Farndinger ein bisschen eigenartig sind. Ich wusste gar nicht, dass man die essen kann.« Dann tauchte er seinen Löffel wieder in den herzhaften Eintopf und führte ihn zum Mund.
Alexandra lachte, wurde jedoch gleich wieder ernst. »Curtis, ich bin doch sehr neugierig, was dich in diese Gegend verschlagen hat. Ihr Außenweltler habt euch lange, lange nicht blicken lassen.«
Mitten im Schlürfen hielt Curtis inne, legte den Löffel ab und schluckte. In dem ganzen Chaos seiner Gefangennahme hatte er sich
noch gar nicht überlegt, welche Erklärung er für seine Anwesenheit an diesem Ort eigentlich abgeben sollte. Er entschied sich, Prues Mission besser nicht zu verraten, bis er mehr über die Absichten der Gouverneurswitwe in Erfahrung gebracht hatte. »Ach, ich bin eigentlich nur spazieren gegangen und in den Wald gelaufen. Aber ich hab mich verirrt, und dann haben Ihre … Ihre Kojoten mich gefunden.« Er konnte nur hoffen, dass die Soldaten Prue nicht gesehen hatten.
»Spazieren?« Die Gouverneurswitwe zog eine Augenbraue hoch.
»Genau. Um ehrlich zu sein: Ich hab die Schule geschwänzt«, flunkerte Curtis verschwörerisch und vergaß in seinem Eifer völlig, dass eigentlich Sonntag war. »Ich hab die Schule geschwänzt und wollte ein kleines Abenteuer erleben. Sie werden mich doch nicht dem Rektor melden, oder?«, schloss er treuherzig.
Lachend warf Alexandra den Kopf zurück. »Oh nein, lieber Curtis«, stieß sie hervor. »Ich würde dich niemals melden. Damit brächte ich mich ja um das Vergnügen deiner Gesellschaft!« Sie zog den Korken aus der Weinflasche und goss noch etwas von der dunklen Flüssigkeit in Curtis’ Becher. »Bitte, trink doch. Du musst ja völlig ausgetrocknet sein.«
»Danke, Frau Gouvern…« Er stolperte über ihren Titel und verbesserte sich: »Alexandra. Ich hätte gern noch ein bisschen. Schmeckt echt gut.« Der Wein war süß und stark, und wenn Curtis trank, spürte er, wie Wärme aus seinem Bauch in den restlichen Körper
strömte. Er nahm noch einen großen Schluck. »Ich habe noch nie so richtig Wein getrunken – ich meine, am Passahfest hab ich mal ein bisschen koscheren Wein bekommen, aber der ist ganz anders als das hier.« Wieder setzte er den Becher an.
»Also, du warst spazieren. In diesem Wald«, wiederholte Alexandra.
Curtis trank den Wein, nahm einen Stapel Löwenzahnblätter und steckte ihn in den Mund. Er nickte.
»Aber Curtis, mein Lieber«, sagte sie. »Das ist einfach nicht möglich.«
Curtis kaute auf seinem Gemüse herum und starrte die Gouverneurswitwe an.
»Buchstäblich unmöglich«, sagte sie. »Denn weißt du, Außenweltkind Curtis, es gibt etwas, das man Waldzauber nennt und das diesen Wald vor der Neugier der Außenwelt schützt. Es trennt unseresgleichen von euresgleichen. Der Waldzauber fließt durch die Adern jedes Wesens, das hier lebt. Doch sollte jemand von euresgleichen, ein Außenweltler, in diese Wälder gelangen – ich glaube, ihr nennt sie reizenderweise die ›Undurchdringliche Wildnis‹ –, wäre er sofort und unwiderruflich in der Peripheriefalle gefangen, einem Labyrinth, in dem jeder Pfad eine Sackgasse ist. Der Wald wird zu einer Art Spiegelkabinett: Sein Bild wiederholt sich als Sinnestäuschung bis an den Horizont, verstehst du, und jede Wegbiegung führt genau an den Ausgangspunkt zurück. Wenn man
Glück hätte, würde der Wald einen irgendwo in der Außenwelt wieder ausspucken, aber genauso gut könnte man für immer verloren sein und durch die unendliche Spiegelung des Waldes wandern, bis man entweder sterben oder den Verstand verlieren würde.«
Curtis kaute immer langsamer auf dem Löwenzahn herum, dann schluckte er hörbar.
»Nein, mein süßer Curtis«, sagte die Gouverneurswitwe und spielte mit einer der Adlerfedern in ihrem Haar, »du könntest die Grenze nur überschreiten und in diese
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