Wildwood
Pfosten zu beiden Seiten der Lehne trafen sich oben in der Mitte, wo das Holz in Form einer bedrohlich wirkenden Krone geschnitzt worden war. Staunend betrachtete Curtis dieses Gebilde, bis er hinter sich eine Stimme fragen hörte:
»Wie findest du ihn?« Die Stimme gehörte einer Frau, und Curtis empfand ihren melodiösen Klang als tröstlich. »Ein Wunder der Handwerkskunst, nicht wahr? Ich habe ihn extra für diesen Raum anfertigen lassen. Hat ewig gedauert.«
Curtis drehte sich um und stand vor der schönsten Frau, die er je im Leben gesehen hatte. Ihr Gesicht war oval und blass, obwohl ihre Lippen so rot schimmerten wie der saftigste Spätsommerapfel. Das Haar war von leuchtendem Kupferrot und zu Zöpfen geflochten, in denen gefleckte Adlerfedern steckten. Gekleidet war die Frau in ein schlichtes bodenlanges Gewand aus goldbraunem Leder und mit einer schweren Stola um ihre Schultern. Sie sah aus wie ein Mensch, und doch kam sie Curtis vor wie aus einer anderen Welt, als wäre sie dem verblichenen, uralten Fresko einer Kathedrale entflohen. Sie ragte hoch über ihrem Kojotenhofstaat auf, und die Tiere huschten hinter ihr her, als sie auf Curtis zuschritt.
»Er ist sehr hübsch«, sagte er.
»Wir haben uns hier große Mühe gegeben«, fuhr sie mit einer ausladenden, den Raum beschreibenden Geste fort. »Anfangs war es schwierig, die grundlegendsten Annehmlichkeiten – diese primitiven Annehmlichkeiten – zu beschaffen, aber es ist uns gelungen. Eigentlich ist es ein Wunder, wenn man bedenkt, dass wir zu Anfang überhaupt nichts hatten.« Sie lächelte gedankenverloren und streichelte mit ihrer schlanken Hand über Curtis’ Wange. »Ein Außenweltler«, sagte sie versonnen. »Ein Außenweltkind. Wie schön du bist. Wie heißt du, Junge?«
»C – Curtis, gnädige Frau«, stammelte er. Noch nie hatte er jemanden mit »gnädige Frau« angesprochen. Doch in diesem Moment kam es ihm einfach angebracht vor.
»Curtis.« Die Frau zog ihre Hand zurück. »Willkommen in unserem Bau. Mein Name ist Alexandra, obwohl die meisten mich die Gouverneurswitwe nennen.« Nun stieg sie auf das Podest und ließ sich elegant auf dem Thron nieder. »Hast du Hunger? Durst? Du musst einen weiten Weg hinter dir haben. Unsere Vorräte sind zwar kärglich, aber wir bieten dir gern an, was wir haben.«
»Klar«, sagte Curtis. »Ich habe ziemlichen Durst.«
»Borya! Carpus!«, sagte sie laut zu zwei Kojoten, die sich in der Nähe herumdrückten, und schnippte mit den Fingern. »Eine Flasche Brombeerwein für unseren Gast. Und Gemüse! Löwenzahn und jungen Farn! Und eine Schale von dem Hirscheintopf für das Außenweltkind Curtis! Hopp, hopp!« Sie schenkte Curtis ein breites
Lächeln und deutete auf die Mooskissen, die den Thron umgaben. »Bitte, setz dich doch.«
Angenehm überrascht machte Curtis es sich bequem.
»Wir sind einfache Leute, Curtis«, begann die Gouverneurswitwe. »Wir beschützen, was uns gehört, und wir verlangen nur wenig vom Wald. Man könnte uns die Hüter von Wildwald nennen. Wir haben uns diese ungezähmte Wildnis zueigen gemacht und eine Ordnung eingeführt, die bitter nötig war. Unsere Absicht ist es, eine wunderschöne Blüte aus diesem öden und unfruchtbaren Boden zu ziehen. Zum Beispiel waren diese Kojoten, die du hier siehst, bei meiner Ankunft in Wildwald ein ärmlicher, hoffnungsloser Haufen. Es herrschten Chaos und Anarchie, ständig bekriegten sie sich und sie waren auf die niederste Form des Waldbewohners gesunken: den Aasfresser. Aber ich habe sie diszipliniert.«
In der Tür erschien ein Kojotendiener mit einem Zinnteller voll frischem Gemüse, einer Schale Eintopf und einem Holzbecher mit einer dunkelvioletten Flüssigkeit und setzte alles vor Curtis ab. Dann holte er eine mit einem Korken verschlossene Flasche unter seinem Arm hervor und stellte sie neben das Tablett. Die Frau nickte, der Kojote verbeugte sich tief und verließ den Raum.
»Bitte, iss doch«, sagte die Gouverneurswitwe, und Curtis machte sich mit Appetit über den Hirscheintopf her. Er nahm einen ordentlichen Schluck aus dem hölzernen Becher, und sein Gesicht rötete sich, als ihm die warme Flüssigkeit durch die Kehle rann.
Die Gouverneurswitwe beobachtete ihn aufmerksam. »Du erinnerst mich an einen Jungen, den ich einst kannte«, erzählte sie. »Er kann nicht viel älter als du gewesen sein. Wie alt bist du, Curtis?«
»Im November werde ich zwölf«, sagte Curtis zwischen zwei Löffeln.
»Zwölf«, wiederholte
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