WILDWORLD - Die Nacht der Wintersonnenwende: Band 1 (German Edition)
– es ist zu spät.« – » Könnten wir etwas anderes Glänzendes benutzen?« – » Dafür bleibt keine Zeit.« – » Janie, ich könnte dich umbringen !«
» Wartet!«, rief Charles. Über den Vorhügeln tauchte bereits eine weiße Mondsichel auf, während er an der Tasche seiner Windjacke herumfummelte. Als er den Reißverschluss endlich au f bekam, zog er einen vertrauten, flachen Gegenstand heraus – einen Schokoriegel.
» Charles«, schrie Alys mit purpurrotem Gesicht, » wenn alles, woran du in diesem Moment denken kannst, dein Magen ist, dann …«
Charles riss die Verpackung mit einer einzigen Bewegung auf und zeigte Alys die Aluminiumfolie auf der Innenseite. » Hier ist dein Spiegel«, sagte er. » Oder so was in der Art. Es wird zumindest das Licht reflektieren.«
Die weiße Mondsichel im Osten wirkte wie in die Länge gezogen, als würde ihre untere Spitze an den Hügeln festkleben. Alys warf ihren Rucksack zu Boden, riss Charles die glänzende Folie aus der Hand und ließ sich mit dem Tiegel genau vor der unteren Mondspitze auf die Knie fallen.
» Ich weiß nicht, ob das funktionieren wird – ich weiß nicht einmal, ob ich es richtig halte.« Zittrig bewegte sie die Folie hin und her und versuchte, den Winkel abzuschätzen, in dem ein Strahl auf den Tiegel fallen würde. Die anderen beugten sich über sie.
» Mondlicht ist nicht wie Sonnenlicht«, erklärte Charles. » Ich wette, wir werden nicht einmal merken, wann genau es funktioniert.«
Doch da irrte er sich. Bei dem Wort funktioniert löste sich der Mond gänzlich von den Hügeln. Im gleichen Moment sah Alys die fleckige Folie aufflammen, und dann schoss ein Strahl reinsten Silbers heraus und traf den goldenen Tiegel. Ein Licht wie der Blitz eines Sommergewitters flammte auf, und Alys kippte beinahe auf den Rücken. Alle wurden geblendet. Als sie durch das verwirrende Nachbild wieder etwas sehen konnten, wurde der Tiegel von einer geisterhaften Flamme gekrönt. Durchscheinend und strahlend wie das Mondlicht selbst erhob sie sich etwa vier Meter in die Luft.
» Ich an deiner Stelle würde das nicht anfassen«, sagte Alys schließlich mit belegter Stimme.
» Es anfassen !« , murmelte Charles mit offenem Mund.
Die Kinder verloren jegliches Zeitgefühl, während sie diese kühle, überirdische Flammensäule betrachteten, die sich weder hob noch senkte, sondern schier endlos ihre Energie verströmte. Sie waren viel zu gebannt, um die Kälte zu spüren. Erst nach langer Zeit begann die Flamme zu flackern und zwischen dem einen Flackern und dem nächsten erstarb sie schließlich. Blinzelnd regten sich die vier Beobachter.
Die Mixtur in dem Tiegel, die zuvor durch die Feuchtigkeit zusammengeklumpt war, hatte eine wundersame Verwandlung vollzogen. Sie war jetzt feiner Sand, der die gleiche Farbe wie die unheimliche Flamme hatte, wie das Mondlicht oder fließendes Wasser oder die Oberfläche eines leeren Spiegels. Von Neugier überwältigt, betastete Janie die Mischung prüfend mit einem Finger.
» Kühl«, sagte sie heiser.
» Gib mir die Taschen!«, verlangte Alys.
Während sie den mondfarbenen Sand in vier Teile teilte und in die grünen Seidentaschen füllte, wagte niemand, sich zu rühren. Niemand sprach oder drängte sie zur Eile, als sie etwas ungeschickt die offenen Enden der Taschen zunähte. Anschließend nahm sich jeder eine Tasche, betrachtete sie stumm und tastete nach dem weichen, schweren Sand darin. Und dann begriffen sie, dass sie alles erledigt hatten, dass sie nass waren, weil sie im Gras knieten, und halb erfroren von der Nachtluft. Und sie begriffen, dass es schrecklich spät war und dass sie nach Hause mussten.
Steif vor Kälte, sammelten sie alle Sachen zusammen und gingen den Hügel hinunter.
Über ihnen stieg die Mondsichel immer höher in den Himmel.
Kapitel 9 – DER ERSTE SPIEGEL
» Ich werde vorangehen«, sagte Alys sanft.
» Bringen wir es hinter uns«, sagte Janie grimmig.
Es war am folgenden Abend, kurz nach Aufgang des Mondes, nachdem sie den ganzen Nachmittag darüber gestritten hatten, durch welchen Spiegel sie gehen sollten. Charles und Claudia wollten es im Keller probieren und behaupteten, dies sei der logischste Ort, um jemanden wie Morgana gefangen zu halten. Alys und Janie hingegen hielten es für nützlicher und weniger gefährlich, den Spiegel im kleinen Flur zwischen der Küche und dem Wohnzimmer zu benutzen, und wie gewöhnlich behielt Alys das letzte Wort. Jetzt hatten sie auch die
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