WILDWORLD - Die Nacht der Wintersonnenwende: Band 1 (German Edition)
und betrachtete ratlos das kleine Steinbröckchen. » Wovon redest du? Was hast du getan?«
» Ich habe den Schädel eines aztekischen Indianers zerstört. Er war in einer Vitrine in Professor Fosters Wohnzimmer.« Janie löste sich von Alys und deutete auf das Stückchen Stein. » Das ist ein menschlicher Knochen.«
Charles brauchte einen Moment, um diese Erklärung zu verdauen.
» Aber – Knochen sind weiß. Das Ding hier hat die falsche Farbe.«
» Idiot. Es ist Hunderte von Jahren alt. In sechshundert Jahren werden deine Knochen auch nicht mehr so frisch aussehen.«
Bei dieser Vorstellung brach Charles in Gelächter aus. Alys und Claudia fielen ein, und sie lachten, bis sie sich erschöpft die Bäuche hielten. Die Anspannung der letzten Minuten war wie weggeblasen.
» Oh, Janie, du bist so witzig«, keuchte Claudia, und Janie errötete. So etwas hatte noch nie jemand zu ihr gesagt.
Alys war die Erste, die wieder ernst wurde. » Jetzt haben wir alle Zutaten«, erklärte sie, » und mit Charles’ Babysitter-Geld kann ich die nötige Ausrüstung kaufen. Morgen Nachmittag sollten wir so weit sein. Und bei Aufgang des Mondes werden wir das Amulett anfertigen.«
Kapitel 8 – DIE HERSTELLUNG DES AMULETTS
Da keines der Geschwister genau wusste, wann der Mond eigentlich aufgehen würde, beeilten sie sich am nächsten Nachmittag alle. Alys nähte hastig von Hand vier Täschchen aus grüner Seide, die sie in einem Stoffgeschäft gekauft hatte. Um halb fünf packte sie die fertigen Taschen in ihren Rucksack, dazu einen kleinen Hammer, eine Nadel und Garn, eine Schere und ein Schablonenmesser. Dann kamen noch der Gürtel, den Claudia geflochten hatte, sowie ein Paar blaue Hausschuhe aus einem Billigladen hinzu.
Alys, Charles und Claudia waren schon halb zur Tür hinaus, als ihr die jungfräuliche Kleidung einfiel.
» Mist! Ich habe zwar neue Unterwäsche und Socken«, rief sie den anderen ein paar Minuten später aus ihrem Zimmer zu, » und ich passe wahrscheinlich noch in die rosa Hose, die Tante Phyllis mir letztes Weihnachten geschenkt hat. Aber zum Kuckuck, eine jungfräuliche Bluse kann ich einfach nicht finden.«
» Ich hab noch dieses T-Shirt, das ich mir in San Francisco gekauft habe«, bot Charles an. » Du weißt schon, das mir Dad verboten hat, auf der Straße zu tragen.«
» Ist es jungfräulich? Hast du es schon anprobiert?«
» Ich hatte noch keine Gelegenheit dazu.«
» Okay, dann wirf es mir rein!«, verlangte Alys. Einen Moment später schnaubte sie, und als sie wieder zum Vorschein kam, hatte sie ihre Jacke bis unters Kinn zugeknöpft. Charles warf einen Blick auf ihre Hose und prustete los.
» Idiot! Warum hab ich die wohl noch nie angehabt, was meinst du? Komm, wir dürfen Janie nicht warten lassen.«
Im alten Haus hatte Janie bereits Mörser, Stößel sowie den goldenen Tiegel auf den Küchentisch gelegt und die Flaschen und Phiolen dazugestellt.
» Alles da«, erklärte sie. » Ich werde euch die Zutaten vorlesen. Schicke Hose übrigens«, grinste sie.
» Vielen Dank«, antwortete Alys. » Fang lieber an zu lesen!«
Während Janie sich über das Blatt beugte, auf dem Alys den Zauber notiert hatte, zog Alys ihre Jacke aus und wickelte sich den geflochtenen roten Gürtel um die Taille, schleuderte ihre Schuhe von den Füßen und schlüpfte in die Pantoffeln. In diesem Aufzug – flauschige blaue Pantoffeln mit Bommeln an den Zehen, pinkfarbene Hose, die eine Nummer zu klein war, Charles’ schwarzes T-Shirt mit dem unanständigen Spruch darauf und dem Gürtel darüber – griff sie nach dem Mörser und dem Stößel.
Tollkirsche, wildes Elefantenohr, Wasserhelm und stinkender Getreidebrand kamen als Erstes in den Mörser. Dann gab Alys ein paar Tropfen Quecksilber über die pulverisierten Kräuter. Die Mineralien zerstampfte sie zunächst mit dem Hammer und zermahlte sie anschließend so, dass sie die Beschaffenheit von rauem Sand hatten. Danach gab sie eine Prise Falkenzahn, eine Handvoll schimmernder Mondfischschuppen, Fliegenbein sowie eine einzelne Phoenixfeder hinzu, die sie mit der Schere in Stücke geschnitten hatte. Schließlich, nach einer kurzen, im Zeremoniell vorgesehenen Pause zermalmte sie den menschlichen Knochensplitter.
» Gegen den Uhrzeigersinn rühren«, erinnerte Janie sie, während sie die Mixtur in den goldenen Tiegel schüttete. » Links herum.«
Alys rührte sorgfältig um, bis sich die Mixtur in eine grünlich braune Masse verwandelte, durchsetzt mit
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