WILDWORLD - Die Nacht der Wintersonnenwende: Band 1 (German Edition)
in Verbindung brachten, würden sie – aufgrund der Aussage der Polizei – in den Augen der Schulleitung als Schuldige feststehen. » Zusätzliche Runden in der Turnhalle. Arbeit in den Freistunden.«
» Aber wir haben es geschafft«, entgegnete Alys und versuchte, die Dinge wieder ins rechte Licht zu rücken. » Wir haben Morgana gefunden und wir haben ihr geholfen. Das bisschen Nachsitzen ist doch nichts im Vergleich dazu, dass wir unsere Welt und unser freies Leben soeben gerettet haben!«
» Du musstest auch noch nie bei Wizinski nachsitzen«, erwiderte Charles leise und verschwand im Bad.
Unten fischte Claudia heimlich das weggeworfene Amulett aus dem Abfall. Sie wollte es als Erinnerung behalten.
Kapitel 16 – ELWYN SILVERHAIR
Es war der zwanzigste Dezember, der Tag vor der Wintersonnenwende und der vorletzte Tag vor den Weihnachtsferien. Claudia saß ungeduldig in der Schule und konnte es kaum mehr erwarten, bis es endlich so weit sein würde. Seit Sonntagnacht waren vier Tage vergangen und die Wildworld war zu einer Art Fiebertraum verblasst. Jetzt waren alle ihre Gedanken auf das Weihnachtsfest gerichtet. Im letzten Jahr war sie schon zu alt gewesen, um noch an den Weihnachtsmann zu glauben, aber in diesem Jahr hatte sie so viel erlebt, dass sie sich fragte, ob nicht doch etwas an der Sache dran war.
Als Jüngste war Claudia glimpflicher davongekommen als ihre drei Geschwister, und sie hatte ein schlechtes Gewissen beim Gedanken daran, dass die anderen ihre Nachmittage damit verbrachten, die Farbe von den Fenstern der Loara Highschool zu kratzen. Aber ein noch schlechteres Gewissen hatte sie bei dem Gedanken daran, was sie wohl am Weihnachtsmorgen in ihrem Strumpf vorfinden würde. Sie war von der tiefen Angst durchdrungen, dass er voller Asche sein könnte.
» Aber ich bin kein böses kleines Mädchen«, sagte sie zu Kirsten Spiegel, und Kirsten nickte freundlich.
Das Thema Strümpfe war für die Zweitklässler von enormer Bedeutung. Vor Beginn der Stunde stellten sie sogar einen Größenvergleich an. Alle hatten Mitleid mit Amanda Butler, weil in ihrer Familie die Strümpfe tatsächlich echte Socken waren. Kindersocken .
» Und ich bin die Jüngste, also werde ich immer betrogen«, erklärte sie Kirsten und Claudia an diesem Morgen. » Seht nur.« Prompt schlüpfte sie aus ihrem Schuh, zog ihren kleinen blauen Socken aus und zeigte ihn her.
» Mein Bruder«, fuhr Amanda fort, während Claudia ernst in die Socke spähte, » hat Schuhgröße 44. Seine Socken sind riesig .«
» Na klar«, erwiderte Kirsten. » Er ist auch ungefähr drei Meter groß. Größere Menschen haben größere Füße.«
» Aber ist das denn fair? Ist es etwa meine Schuld, dass ich klein bin?«
Genau in diesem Moment gongte es, Amanda schnappte sich ihre Socke und hüpfte in die Klasse. Claudia zockelte langsam hinterdrein. Irgendetwas beunruhigte sie. Irgendetwas in ihrem Hinterkopf, das in ihr Bewusstsein gelangen wollte.
Claudias Lesegruppe, die Frühen Vögel, musste jeden Donnerstag einen Rechtschreibtest absolvieren. Heute fand der letzte Test vor Weihnachten statt. Aber Claudia stellte fest, dass sie an nichts anderes denken konnte als an Füße.
» Grüße«, diktierte Mrs McGiffen vorne. » Deine Oma sendet dir Grüße. Grüße .«
Füße, schrieb Claudia nieder. Dann strich sie den ersten Buchstaben durch und änderte das Wort zu Güße.
» Ruß«, diktierte Mrs McGiffen. » Der Socken am Kamin ist voller Ruß .«
Fruß, schrieb Claudia. Nein, das war falsch. Sie machte Früß daraus. Warum nur musste sie ständig an Füße denken?
Und dann wusste sie es auf einmal, und das beunruhigende Gefühl, das an ihr genagt hatte, verwandelte sich in Unglauben und dann in Entsetzen.
Claudia konnte kein einziges Wort mehr buchstabieren, aber sie bemerkte es kaum. In ihrem Magen war ein Knoten und ihr wurde übel. Als sie ihr Testblatt abgab, spürte sie, wie der Knoten sich fester zusammenzog und sich ihr ganzer Körper versteifte. Und da wusste sie, was sie zu tun hatte.
Sie sah auf die Uhr. Acht Uhr plus fünf, zehn, fünfzehn, zwanzig. Es war zwanzig Minuten nach acht.
Sie hob die Hand, um zur Toilette gehen zu dürfen.
» Aber du warst doch gerade erst draußen«, wandte Mrs McGiffen ein.
Claudia erwiderte nichts und Mrs McGiffen gab ihr seufzend die Erlaubnis.
Der Flur vor dem Klassenzimmer war menschenleer. Ihre Schritte hallten laut, als sie an den Räumen der Drittklässler vorbeikam. Sie erreichte die
Weitere Kostenlose Bücher