WILDWORLD - Die Nacht der Wintersonnenwende: Band 1 (German Edition)
uns helfen, Morgana zu befreien.«
» Moment mal. Wie werden wir sie denn herlocken?«
Alle Blicke richteten sich auf ihn.
» Oh nein. Nein! Das werde ich nicht tun.«
» Sie mag dich«, sagte Alys. » Bei unserem Abschied hat sie dich sogar geküsst. Und sie hat dir versichert, dass du sie nur zu rufen brauchst, wenn du sie wiedersehen willst.«
» Nein. Ich weigere mich. Auf gar keinen Fall …«
Um zehn Uhr fünfundvierzig machte sich Alys allmählich Sorgen, weil Charles noch nicht zurückgekehrt war.
Sie war es müde, im Gewächshaus neben dem Spiegel zu knien, in der Hand den Dornenzweig, den Claudia aus dem Rosenbusch eines Nachbarn stibitzt hatte. Und sie machte sich Gedanken wegen der Schlange und Arien Edgewater. Thia Pendriel wusste jetzt, welche Rolle die beiden gespielt hatten – was würde sie wohl tun, um sich zu rächen? Außerdem würde der Mond um zehn Uhr neunundfünfzig an diesem Morgen untergehen, also wo um alles in der Welt blieb Charles?
Um zehn Uhr achtundfünfzig hechtete Charles durch den Spiegel.
» Hast du …«
» Ja!«
Elwyn folgte ihm auf den Fersen und Alys stürzte sich von hinten auf sie. Es gab ein wildes Gemenge und dann fielen die beiden schwer zu Boden.
» Hab dich!«, rief Alys. Der Dornenzweig steckte fest in Elwyns silbernem Haar.
Elwyn wandte den Kopf, um zu sehen, wer sie da festhielt. Als sie direkt in Alys’ Augen sah, blinzelte sie erstaunt und runzelte die Stirn. Ihre Brust wogte vor Erregung, und ihre Wangen, halb verschleiert von dem wirr herabhängenden Haar, färbten sich rosig.
» Du?! Warum … du …« Alys wappnete sich. » Du gemeines Ding! «, rief Elwyn. Es war eindeutig das stärkste Schimpfwort, das sie kannte. » Ich bin verärgert über dich!«
» Ach, Elwyn«, sagte Charles beschwichtigend. » Lass es uns dir erklären.«
» Wir erklären gar nichts«, widersprach Alys vehement. Immer noch aufgewühlt von ihrem Kampf, rauschte das Blut in ihren Adern. » Wir stellen Forderungen !«
» Lass mich los, du unartiges … du böses, unartiges …«
» Sei still!«, befahl Alys und drosch mit der Faust auf den Boden. Dann musterte sie mit scharfem Blick den Spiegel. » Charles, können sie …«
» Hindurchschauen? Ich weiß es nicht. Aber ich würde kein Risiko eingehen.«
» Wir schleifen sie ins Kinderzimmer.«
Schleifen erwies sich allerdings als unnötig, da Elwyn demjenigen folgen musste, der ihr den Zweig ins Haar gesteckt hatte. Auf dem Weg nach oben beruhigte sich Alys und beschloss, Elwyn entschieden, aber freundlich zu behandeln.
Im Kinderzimmer angekommen, sank Elwyn mit Tränen in den blauen Augen auf den Boden. » Du bist ein böser Junge«, sagte sie zu Charles, » und es tut mir schrecklich leid, dass ich dir erlaubt habe, mich zu küssen.«
» Charles?«, fragte Janie.
» Oh, halt bloß den Mund, damit wir es hinter uns bringen können!«
» Elwyn, entschuldige bitte, dass wir dich überlistet haben. Aber du musst verstehen, dass das ein Notfall ist.« Alys beugte sich vor und sprach langsam und deutlich, wie mit einem kleinen Kind, das taub und schwachsinnig war. » Unsere Welt … wird morgen … zerstört. Wenn du … uns hilfst, sie … zu retten, lassen wir … dich gehen.«
» Du … tust … meinem … Kopf … weh«, antwortete Elwyn.
An Alys’ Kinn zuckte ein Muskel.
» Ich hab’s dir gleich gesagt«, bemerkte Charles.
» Bitte«, flehte Alys und wechselte abrupt die Taktik. » Ist es dir denn ganz und gar gleichgültig? Wenn du uns nicht hilfst, werden wir sterben. Verstehst du ›sterben‹?«
» Nein«, antwortete Elwyn schlicht.
Alys überlief ein schrecklicher Schauder. Sie hatte das Gefühl, dass sie – wenn auch völlig unbeabsichtigt – gerade auf den Kern von Elwyns Problem gestoßen war. Wie sollte jemand, der unsterblich und unverletzbar war, Furcht oder Schmerz verstehen können? Kein Wunder, dass Elwyn so herzlos war, ohne bewusst grausam zu sein. Sie brauchte niemals Konsequenzen zu fürchten, denn für sie gab es keine Konsequenzen. Vielleicht war sie deswegen wie ein Kind geblieben … Vielleicht musste man sich dem Tod stellen, um zu reifen … um Verantwortung zu übernehmen …
Wie gern hätte sie bei diesen philosophischen Fragen verweilt, aber da Alys nun mal sterblich war, traf sie die einzige Entscheidung, die sie in dieser Situation treffen konnte. » Machen wir weiter!«, zischte sie. » Ob du es verstehst oder nicht«, fuhr sie dann gelassen fort, » du wirst uns helfen.
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