Wilhelm II.: Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers (German Edition)
eigenes Amt standen auf dem Spiel. In dem Versuch, seinen Einfluss auf den Prinzen zu konsolidieren, wählte der Kanzler eine charakteristische Mischung aus Zuckerbrot und Peitsche. Er empfahl sich selbst weiterhin als der Mentor der politischen Karriere Wilhelms, indem er sich die Unterschrift des Kaisers unter ein Dokument verschaffte, das besagte, dass in dem Fall, dass das Staatsoberhaupt geschäftsunfähig werden sollte, der Status und die Vollmachten eines Stellvertreters bis zum Tod des Kaisers auf Wilhelm übergehen sollten – eine Entwicklung, die in San Remo verständlicherweise für einige Unruhe sorgte. Gleichzeitig ergriff Bismarck Maßnahmen, um Wilhelm davon abzubringen, mit seinem sichtbarsten Gegenspieler General Waldersee gemeinsame Sache zu machen. Zu diesem Zweck torpedierte er ganz gezielt die Beziehung zwischen Wilhelm, Waldersee und dem geistlichen Politiker Adolf Stoecker.
Der Gründer der Christlich-Sozialen Arbeiterpartei (später Christlich-Sozialen Partei) Adolf Stoecker, seit 1874 Hof- und Domprediger in Berlin, zählte zu den schillerndsten und innovativsten Figuren im deutschen Konservatismus Ende des 19. Jahrhunderts. Wie sein Zeitgenosse Karl Lueger in Wien mobilisierte auch Stoecker mit einer effektiven Mischung aus populistischem Antikapitalismus, opportunistischem Antisemitismus und einer missionierenden Erweckungsrhetorik die Massen für seine konservative Agenda. Er hatte sich zum Ziel gesetzt, die säkularisierte und entfremdete Arbeiterklasse mit dem Christentum und der monarchischen Ordnung zu versöhnen. Bismarck nahm gegenüber Stoecker eine ambivalente Haltung ein: Er schätzte die konservative, monarchische Stoßrichtung der Politik des Predigers, war aber skeptisch, ob es ihm gelingen würde, der Sozialdemokratie die Arbeiter abspenstig zu machen, und seine demagogischen Taktiken lehnte er ab. Wichtiger noch: Ende des Jahres 1887 betrachtete er Stoecker bereits als eine politische Gefahr. Im November des Jahres wurde in den Räumlichkeiten General Waldersees ein Festabend zur Sammlung von Spenden zugunsten der Stadtmission Stoeckers veranstaltet, einer Einrichtung, die eigens zu dem Zweck gegründet worden war, die wohltätige Arbeit mit der Missionierung unter den städtischen Armen zu kombinieren. Prinz Wilhelm war ebenfalls anwesend und hielt eine kurze Ansprache, in der er die Arbeit des Hofpredigers lobte und feststellte, dass der »christlich-soziale Gedanke« mit seiner »Anerkennung der gesetzlichen Autorität und der Liebe zur Monarchie« sowie die Erweckung der Massen der einzige Weg sei, die revolutionären Tendenzen einer anarchistischen und gottlosen Partei (ein Seitenhieb auf die Sozialdemokraten) zu neutralisieren. Bismarck sah in der Veranstaltung die Anfänge einer neuen und gefährlichen Koalition politischer Kräfte. Stoecker war potenziell ein Kanal zwischen Prinz Wilhelm und jenen konservativen, protestantisch-klerikalen »Ultras«, welche die Integrität der liberal-konservativen Reichstagsmehrheit des Kanzlers gefährdeten. 47 Für Bismarck schien es klar, dass hier letztlich das Ziel verfolgt wurde, den Boden für eine Kanzlerschaft Waldersees nach Wilhelms Thronbesteigung zu bereiten.
Statt Wilhelm in der Angelegenheit direkt unter Druck zu setzen, machte sich Bismarck auf charakteristische Weise die überaus beachtlichen, publizistischen Ressourcen der Reichskanzlei zunutze. In der zweiten Dezemberwoche erschienen auf den Seiten der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung, einer überregionalen Zeitung, die gemeinhin als halboffizielles Organ der Regierung galt, mehrere scharfe Angriffe auf Stoecker. Die nationalliberalen und gemäßigt konservativen Zeitungen, die mit Bismarcks Reichstagsmehrheit in Verbindung standen, schlossen sich rasch dem Treiben an und erhoben den Vorwurf, eine reaktionäre, geistliche Clique habe den empfänglichen Prinzen für ihre eigenen Interessen eingespannt. Zum ersten, aber nicht zum letzten Mal sah Wilhelm sich im Mittelpunkt einer landesweiten Pressekampagne.
Der unvermittelte Tritt ins Rampenlicht und in die öffentliche Kritik versetzte Wilhelm allem Anschein nach in Panik – erste Anzeichen einer Empfindlichkeit gegenüber der öffentlichen Meinung, die ihn während seiner ganzen Regierungszeit begleiten sollte. Noch vor Ende des Monats gab er eine öffentliche Erklärung ab, in der er sich von Stoeckers Antisemitismus distanzierte. In einem privaten Brief an Bismarck beteuerte Wilhelm, dass sein Engagement
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