Wilhelm II.: Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers (German Edition)
die Entlassung getreuer Beamter aus Wilhelms persönlicher Beratergruppe erzwang, darunter die zuverlässigen Kabinettschefs Valentini und Lyncker. Bei Valentinis Abschied vergoss Wilhelm sogar Tränen; sein Nachfolger Friedrich Wilhelm von Berg schmeichelte sich schon bald beim Kaiser ein, wurde aber von gut unterrichteten Beobachtern als Agent der militärischen Führung angesehen.
Öffentliche Meinung
Wenn die Macht des preußisch-deutschen Throns innerhalb der Verwaltungsstruktur bis Ende 1917 ausgehöhlt wurde, so spielte sich auf der Ebene der öffentlichen Meinung ein analoger Prozess ab. Im Jahr 1914 hatte die Nachricht von dem bevorstehenden Krieg in Berlin und vielen anderen deutschen Städten in vielen Sektoren der Bevölkerung eine starke Identifizierung mit der Person des Kaisers ausgelöst. Ein Augenzeuge erinnerte sich, wie am Nachmittag des 31. Juli 1914, als Wilhelm und seine Frau in einem offenen Motorwagen durch das Brandenburger Tor fuhren, die Menschenmengen Wilhelm II. begeistert zujubelten und auf die Fahrbahn strömten, als wollten sie ihrem Kaiser die Herzlichkeit ihrer Loyalität zeigen, indem sie sich eng um ihn drängten. 51 Journalisten schrieben von einer beispiellosen Einigkeit der Ziele zwischen Kaiser und Bevölkerung. Wilhelm griff dieses Thema einen Tag später in einer Rede auf, die er vom Balkon des Schlosses in Berlin hielt. Er erklärte: »Wenn es zum Kriege kommen soll, hört jede Partei auf, wir sind dann nur noch deutsche Brüder. In Friedenszeiten hat mich zwar die eine oder andere Partei angegriffen, das verzeih ich ihr aber jetzt von ganzem Herzen.« In einer Ansprache an die Reichstagsabgeordneten, die drei Tage danach im Thronsaal des Königspalastes versammelt waren, wiederholte er diese Gefühle in der berühmten Wendung: »Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche!« 52 Dieser Satz wurde auf Postkarten mit Wilhelms Porträt für die Regierungspropaganda abgedruckt und entwickelte sich zu einem der »geflügelten Wörter« im Deutschen Reich während des Krieges.
Historiker haben zu Recht die Einmütigkeit der deutschen »nationalen Begeisterung« in Frage gestellt, mit der die Neuigkeit vom Kriegsausbruch aufgenommen wurde. Dieselben Vorbehalte sind zweifellos bei den Ergüssen royalistischer Emotionen angebracht, die in den ersten Kriegstagen in der deutschen Presse dokumentiert wurden. 53 Es ist immer noch schwierig, den Stand der öffentlichen Meinung gegenüber dem Monarchen in den Kriegsjahren einzuschätzen, weil die verschärfte Zensur die Veröffentlichung unverhohlen kritischer Kommentare so gut wie unmöglich machte. 54 Staatliche Propagandatexte und -filme verbreiteten das Bild eines Kaisers, der hart für die Nation arbeitete und die Entbehrungen seines Volkes teilte. 55 Wilhelm achtete wohlweislich darauf, diese Bemühungen nicht zu sabotieren; er mied Auftritte in der Öffentlichkeit und behielt seine Haltung zu strittigen Themen wie innenpolitischen Reformen und Annexionen nach dem Krieg für sich. Auf diese Weise konnte verhindert werden, dass die Indiskretionen des Mannes die Autorität seines Amtes unterminierten. Laut Arnold Wahnschaffe, einem Unterstaatssekretär in der Reichskanzlei, war das größte Plus des Kaisers in der öffentlichen Meinung die weitverbreitete Anschauung, dass er niemals einen Krieg gewollt habe. »Verschiedene Sozialdemokraten haben mir gesagt«, schrieb er 1915 in einem Brief an Kabinettschef Valentini, »nichts wirke der bösartigen Agitation ihrer Radikalen mehr entgegen, als der auch unter den sozialdemokratischen Arbeitern überall verbreitete Glaube an den redlichen Friedenswillen des Kaisers. Man höre immer wieder: ‚Wenn der Kaiser den Krieg hätte vermeiden können , hätte er es getan’, und deswegen könne dieser Krieg kein ungerechter Eroberungskrieg sein.« 56
Die Pressekommentare zu einer der letzten Reden Wilhelms, einer Ansprache an Arbeiter der Krupp-Werke in Essen am 12. September 1918, lassen darauf schließen, dass er noch am Vorabend des deutschen Zusammenbruchs imstande war, ein positives Band zu Teilen der deutschen Öffentlichkeit zu knüpfen. In einem persönlichen, ein wenig weinerlichen Tonfall versicherte Wilhelm seinen Zuhörern, dass er das Leid, die Not und das Elend des deutschen Volkes kenne, erinnerte sie an seine Friedensanstrengungen, bekundete sein Mitgefühl für die Krankheit seiner bettlägerigen Gattin, beschwor die göttliche Vorsehung herauf und schloss
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