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Wilhelm II.: Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers (German Edition)

Wilhelm II.: Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers (German Edition)

Titel: Wilhelm II.: Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christopher Clark
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mit einer Ermahnung, der Macht des Gegners stand zu halten. Die Ansprache rief ein positives Echo hervor, das über die neutrale Berichterstattung hinaus ging, die gemäß den Zensurvorschriften notwendig war. Das Stuttgarter Tageblatt erklärte etwa, dass seine Leser dem kaiserlichen Herrscher dankbar seien, dass er ihre Sorgen kenne und sie mit seiner souveränen Sympathie achte. 57 Die Kölnische Volkszeitung bemerkte, der Kaiser habe »in entscheidenden Augenblicken bewiesen, dass das Fühlen und Sehnen unseres Volkes in seinem Herzen wiederklingt«; ein anderer Reporter beschrieb »einen leisen Unterton der Trauer in der Stimme [des Redners], und wieder ein anderer meldete, der Kaiser wisse, was alle fühlten. 58 Ähnliche Kommentare waren in vielen anderen, regionalen Zeitungen zu lesen. 59
    Dennoch sollten wir uns von diesen emotionsgeladenen Beteuerungen nicht dazu verleiten lassen zu unterschätzen, wie sehr der Kaiser aus dem Zentrum des öffentlichen Lebens verdrängt worden war. Seit den ersten Kriegsmonaten wurde Wilhelm immer mehr von der Figur Paul von Hindenburgs in den Schatten gestellt. Es entwickelte sich ein regelrechter Kult um Hindenburg, dem das Verdienst für den deutschen Sieg über die Russen bei Tannenberg zugesprochen wurde. Sein Porträt mit dem markanten, rechteckigen Kopf wurde endlos reproduziert und auf öffentlichen Plätzen zur Schau gestellt. »Hindenburg-Statuen«, hölzerne Kolosse auf öffentlichen Plätzen, gespickt mit Gedenknägeln, die man mit Spenden für das Rote Kreuz erworben hatte, schossen in ganz Deutschland wie Pilze aus dem Boden. Es bestand insofern eine Parallele zum Bismarck-Kult der 1890er Jahre, als die Lobeshymnen auf den Feldmarschall häufig mit impliziter Kritik am Kaiser und an der zivilen Regierung verknüpft waren. 60 Beide Phänomene blühten in dem »Vakuum einer genuinen politischen Repräsentanz« der Nation auf. 61 Aber die Sehnsucht nach einem »Führer«, die in manchen Kreisen verspürt wurde – einem Führer, der eine absolute und ungetrübte Autorität und Macht über Freund und Feind gleichermaßen hätte – verlieh dem Hindenburg-Kult eine Intensität, die der Beweihräucherung Bismarcks gefehlt hatte. Der Kult, der sich um Hindenburg entwickelte, machte aus ihm den symbolischen und psychologischen Gegenspieler des Kaisers. In Kriegszeiten wurden, wie Wolfram Pyta nachweist, Ruhe und Unerschütterlichkeit mehr als alle anderen Führungsqualitäten gepriesen: »Die deutsche Ruhe wurde urplötzlich zur Kardinaltugend für einen erfolgreichen Kriegsausgang.« 62 Der Gegensatz zwischen dem Feldmarschall, der stets ein Gefühl souveräner Zuversicht ausstrahlte, und dem sprunghaften, labilen Kaiser, mit seiner grenzenlosen Tatkraft und den kurzlebigen Leidenschaften, hätte kaum größer sein können. Die Mobilität und Ruhelosigkeit Wilhelms II. hatten einst augenscheinlich der dynamischen Modernität des deutschen Reiches selbst entsprochen und sie widergespiegelt; nach 1914 wurden diese Merkmale, die so untrennbar mit der Person des Kaisers assoziiert wurden, zu einem Makel statt zu einem Vorzug. Wie ein prominenter Industrieller, der sich vehement für Annexionen aussprach, es ausdrückte: »es muß bald der starke Mann kommen, der allein uns vor dem Abgrunde, über dem wir bereits hängen, bewahren könnte.« 63 Dass der Kaiser sich für diese Rolle nicht eignete, verstand sich von selbst. Wie Martin Kohlrausch nachweist, hatte die Anhäufung der Skandale, welche die kaiserliche Monarchie während der Herrschaft Wilhelms II. belastet hatten, die Tendenz beschleunigt, die Einzelperson von der Einrichtung zu trennen; dadurch wurde es möglich, die Person Wilhelms abzulehnen und zugleich souveräne Elemente des Amtes mit einem idealisierten Führertypus zu verschmelzen. 64
    Die Entwicklung Hindenburgs zu einem »Ersatzkaiser« war eine Quelle wachsender Sorge für den Monarchen und seine Umgebung. Dennoch unternahm Wilhelm kaum etwas, um den Niedergang seines Ansehens aufzuhalten. Vermutlich war es ein gravierender Fehler, Berlin zu verlassen und im Kaiserlichen Hauptquartier zu bleiben, weil der Hauptstadt und der Nation so ihre politische Galionsfigur fehlten. Da allgemein bekannt war, dass der Kaiser mit der operativen Kriegführung wenig zu tun hatte (die Verantwortung hierfür wurde in der allgemeinen Meinung dem Kriegshelden Hindenburg zugeschrieben), konnte die Anwesenheit Wilhelms, unterbrochen von gelegentlichen Ausflügen an die

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