Wilhelm II.: Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers (German Edition)
Handlungsfreiheit des Monarchen eingeschränkt wurde, indem seine Optionen, ohne sein Wissen, fingiert wurden. Im Herbst 1892 unterstützten zum Beispiel Holstein auf der einen Seite und Wilhelm und Caprivi auf der anderen verschiedene Kandidaten für den Botschafterposten in St. Petersburg. Es wurde eine komplexe Intrige gesponnen, um dem Monarchen die Initiative aus der Hand zu nehmen: Holstein bat Eulenburg, den russischen Botschafter in München zu ersuchen, dass er doch den Zaren bitten möge, gegenüber Caprivi eine Vorliebe für General Bernhard von Werder, also Holsteins Kandidat, zu äußern. Gleichzeitig überzeugte Eulenburg Wilhelm, dass eine Ablehnung des Wunsches des Zaren einer Beleidigung gleichkäme. Dieses außergewöhnliche Manöver hatte Erfolg. Eine ähnlich weitverzweigte Intrige musste 1893 angezettelt werden, um Wilhelm davon abzubringen, den Botschafterposten in Rom einem seiner von ihm geschätztesten Militärattachés anzuvertrauen. Wilhelms Beziehung zu dem kleinen Freundeskreis hatte folglich einen typisch zweischneidigen Charakter: Ermächtigung und Unterstützung gingen einher mit Einschränkung und Lenkung des Souveräns.
Kaiser gegen Minister: die Köller-Krise
In Wilhelms Augen hatte das Grundproblem der Kanzlerschaft Caprivis in dem unbeugsamen Charakter des Kanzlers gelegen. In seinen vier Amtsjahren reichte Caprivi nicht weniger als fünf Mal seinen Rücktritt ein, »so oft der Kaiser etwas Entscheidendes gewollt« hatte. 78 Mit der Berufung des Fürsten Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst auf dessen Platz war die Hoffnung verbunden, eine völlig andere Beziehung zwischen dem Souverän und dessen erstem Minister einzuleiten. Wie John Röhl ausgeführt hat, war es wegen Hohenlohes fortgeschrittenen Alters (75 Jahre), seiner versöhnlichen Art, der Abhängigkeit von diskreter finanzieller Unterstützung durch den Kaiser und wegen der engen Blutsbande zur königlichen Familie (Wilhelm sprach ihn mit »Onkel« an) unwahrscheinlich, dass dieser eine so distanzierte, die Konfrontation suchende Haltung wie Caprivi als Kanzler einnehmen würde. 79 In einem Brief an Philipp Eulenburg brachte Wilhelm seine Zufriedenheit zum Ausdruck: »Ich bin so glücklich mit dem alten Hohenlohe, alles geht so schön und bequem; sowie einer von uns was will, wird gleich ein kleiner Noten- oder Worteaustausch gemacht, so dass nichts hinter den Kulissen geschehen kann! Dass ich mich wie im Paradiese fühle.« 80
Einmal mehr sollte die anfangs harmonische Stimmung jedoch nicht lange Bestand haben. Nur wenige Monate nach der Berufung geriet Wilhelm in einen heftigen Streit mit der neuen Regierung. Der Grund dafür lag diesmal weniger in der Persönlichkeit des Kanzlers als im wachsenden Unmut des Ministeriums. Die Minister hatten zwei Hauptbeschwerden: Erstens hatten sie das Gefühl, dass sie durch Kräfte umgangen würden, die dem Thron näher standen. Wilhelm machte beispielsweise kein Hehl daraus, dass er den Rat Wilhelm von Hahnkes, seines Chefs des Militärkabinetts, dem Rat des preußischen Kriegsministers Walter Bronsart von Schellendorf vorzog. Im Gegensatz zu seinem »unverantwortlichen« Kollegen musste Letzterer im Parlament für die Regierungspolitik Rede und Antwort stehen. Zweitens meinten die Minister, Wilhelms offen ablehnende Haltung gegenüber dem Zentrum beeinträchtige ihre Effektivität im Parlament. Mehrere Minister, allen voran der Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Adolf Freiherr Marschall von Bieberstein, und Bronsart, vertraten die Ansicht, dass eine konstruktivere Beziehung zwischen Regierung und Parlament nur dann zustande komme, wenn durch die Erfüllung der legitimen Anliegen der katholischen Kirche ein »vollkommener Zustand von Friede und Eintracht« mit ihr erreicht werde. 81 Aber Wilhelm blieb – bestärkt von Elementen in seinem Gefolge – weiterhin bei seiner Meinung, dass alle Zugeständnisse an die Katholiken Unruhe unter den gebildeten Schichten der Nation schaffen würden. Er vereitelte außerdem eine Annäherung, indem er die Atmosphäre mit öffentlichen Äußerungen und Auftritten vergiftete, die darauf abzielten, die Führung des Zentrums abzuschrecken. »Die Stellung der Minister sei ganz unmöglich«, beklagte sich Bronsart im Februar 1895, »man mühe sich mit dem Parlament ab, tue was man könne, um etwas zustande zu bringen, und dann zerstören anonyme Ratgeber wieder alles; so könnten die Dinge nicht weitergehen.« 82
Im Frühjahr und Sommer
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