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Wilhelm II.: Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers (German Edition)

Wilhelm II.: Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers (German Edition)

Titel: Wilhelm II.: Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christopher Clark
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Haushaltsausschuss des Reichstags verrissen wurden. Hollmann wurde ein »Urlaub« gewährt, und Admiral Tirpitz wurde an seiner Stelle ernannt.
    Die Folge war ein Sieg der auf Schlachtschiffe ausgerichteten, antibritischen Flottenstrategie, die Senden, Tirpitz und ihre Verbündeten schon seit Anfang der neunziger Jahre gefordert hatten. Am 26. März 1898 verabschiedete der Reichstag nach einem Propagandafeldzug ohnegleichen ein neues Flottengesetz. Anstelle der bruchstückhaften und unkonkreten Vorschläge Anfang und Mitte der neunziger Jahre setzte das Reichsmarineamt nun einen langfristigen Bauplan durch. Das Deutsche Reich sollte letztlich in die Lage versetzt werden, die britische Flotte als ebenbürtiger Gegner herauszufordern; der Tirpitz-Plan hatte das Ziel, wie Jonathan Steinberg schreibt, »Großbritannien die ausschließliche Hegemonie über die Weltmeere aus der Hand zu nehmen«. 42
    Kann die Ernennung von Tirpitz und die Ära der einseitigen Flottenaufrüstung, die mit den Flottengesetzen von 1898, 1900, 1906, 1908 und 1912 darauf folgte, als ungetrübter Sieg für Wilhelm und für das Prinzip der persönlichen Herrschaft gewertet werden? In einer Beziehung besteht daran allem Anschein nach gar kein Zweifel. Immerhin war es Wilhelm, der den Mann ernannte, der die Schiffe baute, und der ihn über die Köpfe von 13 höheren Offizieren hinweg beförderte. Wilhelm stärkte dem Admiral (wenig später Großadmiral) gegen einen wachsenden Chor der Kritiker den Rücken und bestand darauf, dass die übrigen Minister Tirpitz bei den neuen Flottengesetzen unterstützten. »Euer Durchlaucht wissen«, teilte Wilhelm dem Kanzler Hohenlohe im November 1899 mit, »[…] dass ich fest entschlossen bin, den Reichstag aufzulösen, wenn derselbe im Hinblick auf unsere Sicherheit und Zukunft unbedingt notwendige Verstärkung unserer Seestreitkräfte ablehnen sollte. Gegenüber dieser Frage, welche für das Reich eine Frage von Sein oder Nichtsein ist, müssen alle anderen Rücksichten und Erwägungen in den Hintergrund treten.« 43
    Dennoch sind einige Einschränkungen angebracht. Es ist erstaunlich, dass Wilhelm diesen grundlegenden Wechsel in der Verteidigungspolitik nur dadurch bewerkstelligen konnte, dass er in einer Auseinandersetzung innerhalb der Marineverwaltung zwischen Hollmann im Reichsmarineamt und seinen Gegnern im Marinekabinett und in der Seekriegsleitung vermittelte. Auch hier spielte er, wie in vielen anderen Konflikten, eher eine reaktive Rolle als eine kreative. Und das Projekt mit dem treffenden Namen »Tirpitz-Plan« entsprach auch nicht dem, was sich Wilhelm seit vielen Jahren unter einer deutschen Flotte vorgestellt hatte. Wilhelm hatte sich schnelle, moderne Kreuzer gewünscht; Tirpitz wollte schwere Schlachtschiffe mit einer maximalen Feuerkraft. So gesehen, bedeutete der Wechsel zu großen Schiffen eine Kursänderung des Kaisers. Wohl einer der größten Erfolge von Tirpitz war, dass es ihm gelang, spätere Versuche Wilhelms abzuwehren, an dem in die Wege geleiteten Bauprogramm noch Änderungen vorzunehmen. Wie Volker Berghahn angemerkt hat, musste die neue Flottenpolitik nicht nur gegen parlamentarische Interventionen, sondern auch gegen Interventionen von oben geschützt werden. 44
    Wilhelm war sich von Anfang an im Klaren über die antibritische Stoßrichtung des neuen Plans. Der anglophobe Geist der Dokumente zur Linie des Admirals dürfte ihm nicht entgangen sein: Die Denkschrift, die dem Kaiser im Juni 1897 die Reformvorschläge präsentierte, begann beispielsweise mit der lapidaren Feststellung: »Für Deutschland ist zur Zeit der gefährlichste Gegner zur See England«, und dieselbe Behauptung tauchte in abgewandelter Form in allen folgenden Gesetzesentwürfen und Denkschriften auf. 45 Kurzfristig entsprachen so große Töne zweifellos Wilhelms Bedauern über die Ereignisse Mitte der neunziger Jahre. Aber man muss unterscheiden zwischen Wilhelms sprunghafter und ambivalenter Haltung gegenüber dem Land seiner britischen Anverwandten und der unnachgiebigen Feindschaft Tirpitz’, die, wie Peter Winzen nachweist, mit der sozialdarwinistischen Anschauung des Admirals verknüpft war, dass die demographische und ökonomische Expansion Deutschlands unweigerlich zu einem Konflikt mit der größten imperialistischen Macht führen würde. 46 Selbst innerhalb der höchsten Reihen der deutschen Kriegsmarine war Tirpitz wegen der Beharrlichkeit und Engstirnigkeit seiner Anschauungen ein Außenseiter. Er

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