Wilhelm II.: Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers (German Edition)
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Historische Darstellungen der Ereignisse zeigen die »Krüger-Depesche« und Wilhelms Rolle bei der Versendung tendenziell in einem möglichst schlechten Licht. Zum Beispiel stellte ein Historiker die These auf, das Telegramm sei nur deshalb von den Regierungsvertretern auf der Sitzung vom 3. Januar gebilligt worden, weil sie Wilhelm von einem fantastischen Plan abbringen wollten, Deutschland mit Großbritannien in einen Landkrieg in Afrika zu verwickeln. Das Telegramm selbst wird von Historikern als »grundlos« und »überflüssig« kritisiert. 33 Doch diese Einschätzungen geben Wilhelms Rolle im Umfeld der Depesche nicht korrekt wieder. Wilhelm zog keineswegs als Einziger die Entsendung deutscher Truppen in die Region in Betracht: Auch Marschall hatte mit dem Gedanken gespielt. Unter dem Einfluss Holsteins hatte sich der Außenminister bereits für eine harte Linie in der Frage der Unabhängigkeit Transvaals entschieden; er hatte den deutschen Botschafter in Lissabon angewiesen, sich zu erkundigen, ob die portugiesischen Behörden den Durchmarsch deutscher Soldaten nach Transvaal über Lourenço Marques (das heutige Maputo) gestatten würden. Somit war Wilhelm bei dem Treffen am 3. Januar nicht isoliert, wie manche Darstellungen behaupten; alle Teilnehmer vertraten dieselbe »Grundposition« in der Transvaal-Frage. 34 Anders ausgedrückt: Die Depesche ging nicht auf einen Versuch zurück, einen empörten Kaiser in die Schranken zu weisen, der jeden Bezug zur Realität verloren hatte.
Es trifft gewiss zu, dass die Depesche von Königin Victoria, der britischen Regierung und der britischen Presse als unbegründet und beleidigend empfunden wurde, aber das heißt noch lange nicht, dass unsere eigene Einschätzung ebenfalls an dieser Reaktion gemessen werden muss. 35 In der Literatur über diese Periode – und im allgemeinen, heutigen Bewusstsein – ist die verblüffende Tendenz zu beobachten, die Angelegenheit aus englischer Sicht zu betrachten, implizit die Vorstellung zu akzeptieren, dass die britische, koloniale Ausdehnung und die britischen Auffassungen vom Recht der Briten eine »natürliche Ordnung« bildeten, in deren Licht die deutschen Proteste offensichtlich mutwillige Provokationen waren. Insofern als die im Übrigen zurückhaltend formulierte Krüger-Depesche – vor den Augen der internationalen Gemeinschaft – gegen das arrogante Auftreten Großbritanniens in der Transvaal-Frage und die geringschätzige Behandlung Deutschlands protestierte, ist sie alles andere als unbegründet. Wenn es Wilhelms Absicht war, die Solidarität der deutschen Öffentlichkeit aufzurütteln, dann muss das Telegramm überdies, zumindest kurzfristig, als enormer Erfolg gewertet werden, denn es wurde mit einer Woge der Begeisterung begrüßt, die das gesamte Parteienspektrum erfasste. 36
Am Ende wich Deutschland einer Konfrontation mit Großbritannien wegen Südafrika aus. Als sich abzeichnete, dass dem Deutschen Reich die Mittel fehlten, um seinen Willen durchzusetzen oder auch nur um sich den Respekt zu verschaffen, der einem gleichberechtigten Gegner bei solchen Konflikten gebührte, drängten die Minister Wilhelm zu einer versöhnlichen Einigung, die das Reich im Gegenzug für wertlose britische Zugeständnisse von einer weiteren Beteiligung an der politischen Zukunft Südafrikas ausschloss. Wilhelms sentimentales Mitgefühl für die Buren und das »afrikanische Deutschtum« schwand rasch und in seiner unbekümmerten Art wurde er sogar ein glühender Verehrer von Cecil Rhodes. »Was für ein Mann das ist«, schwärmte er nach einer Begegnung mit Rhodes zum Frühstück im März 1899. »Warum ist er nicht mein Minister? Mit ihm könnte ich alles vollbringen.« 37
Die Flotte wird zur Chefsache
Die Transvaal-Krise und die Krüger-Depesche markierten eine wichtige Zäsur. Sie regten sofort Wilhelms Appetit auf einen ehrgeizigeren Kurs an und machten ihm schmerzlich bewusst, wie sehr die deutsche Politik durch das Fehlen einer Flotte eingeschränkt war. In einer vielbeachteten Rede erklärte Wilhelm am 18. Januar 1896, nur zwei Wochen nach der Depesche: »Aus dem Deutschen Reiche ist ein Weltreich geworden.« Er fügte die eindringliche Bitte hinzu: »An Sie, meine Herren, tritt die ernste Pflicht heran, Mir zu helfen, dieses größere Deutsche Reich auch fest an unser heimisches zu gliedern.« 38 Er war geradezu besessen von dem Bedarf an Schiffen, das ging so weit, dass er allmählich in fast jeder internationalen
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