Wilhelm II.
die zukünftige äußere Politik des Reiches». Wunschziel der äußerst riskanten Flottenpolitik war nicht etwa, einen Krieg mit England herbeizuführen, sondern im Gegenteil den Durchbruch zur Weltmacht ohne Krieg zu forcieren. Ein erzwungenes Bündnis mit England, das die deutsche Vorherrschaft in Europa sowie in Übersee dauerhaft gewährleistete, wäre geradezu der «Schlußstein unserer Flottenpolitik».
Bethmann, Kiderlen und Wermuth, der Staatssekretär des Reichsschatzamts, wehrten sich hartnäckig gegen die als halsbrecherisch empfundene Politik des Kaisers und fanden Verbündete sowohl innerhalb der Marine als auch in der Armee. Eine Entscheidung zwischen Tirpitz und Bethmann wurde für den Kaiser unumgänglich, doch er zögerte, unwillig, den Rücktritt des einen oder des anderen zu riskieren. Mitte Oktober 1911 klagte er über den Reichskanzler, wie Müller notierte: «Er stecktvoller Bedenken u. ist ganz von der Angst vor England beherrscht. Aber ich lasse mir nicht durch England diktieren, was ich tun und lassen soll. Ich habe dem R. K. gesagt, er solle daran denken, daß ich ein Enkel des Gr. Kurfürsten u. Friedr. d. Gr. sei, die nicht lange gezögert haben zu handeln, wenn es ihnen an der Zeit schien. Ich habe dem Reichskanzler auch gesagt, er müsse doch auch die göttliche Vorsehung mit in Rechnung stellen, die werde schon dafür sorgen, daß ein Volk, das so viel auf dem Kerbholz hat, wie die Engländer, auch einmal klein würde.» Die Krise zog sich über den ganzen Winter hin. Noch im Januar 1912 klagte Wilhelm «in schärfsten Ausdrücken über Schlappheit u. Angstmeierei» Bethmanns und der Wilhelmstraße. Als sich auch ein Botschafter gegen den forcierten Dreadnoughtbau aussprach, entgegnete der Kaiser: «Ich will Ihnen was sagen, Ihr Diplomaten habt die Hosen voll, die ganze Wilhelmstraße stinkt nach …» Dem Kanzler gelang es schließlich, die vom Kaiser und Tirpitz geforderte Flottennovelle auf die Hälfte zu reduzieren, doch selbst in dieser Form wirkte die Beschleunigung des Schlachtflottenbaus auf London als Provokation. Der neuernannte Erste Lord der Admiralität, Winston Churchill, verdoppelte den Etat für die Royal Navy und verlegte die im Mittelmeer stationierten Schiffe in die Nordsee. Der britische Generalstabschef traf sich fortan regelmäßig mit seinem französischen Kollegen, um Einzelheiten über die Landung britischer Truppen an der französisch-belgischen Grenze abzusprechen. Ende 1911 sagte der britische Admiral Fisher voraus, daß der große Entscheidungskampf «im September 1914» beginnen würde, nicht zuletzt, weil dann der Kaiser-Wilhelm-Kanal für Großkampfschiffe passierbar sein würde. Beide Länder mit ihren Verbündeten torkelten jetzt schon am Rande eines Weltkrieges.
Die mißlungene Haldane-Mission (1912)
Worum es in dem deutsch-britischen Antagonismus letztendlich ging, wurde im Verlauf der Verhandlungen deutlich, die der britische Kriegsminister Lord Haldane im Februar 1912 in Berlin mit dem Reichskanzler, Tirpitz und Kaiser Wilhelm führte. Die Initiative zu dem Treffen hatten in Deutschland der Hapag-DirektorAlbert Ballin und in England der deutschbritische Finanzier Sir Ernest Cassel ergriffen. Als die Engländer ihre Gesprächsbereitschaft signalisierten, sah sich Wilhelm II. bestätigt in seiner Überzeugung, daß London nur aus Angst vor seinem Flottenbau eingelenkt hätte. Seine schönsten Hoffnungen schienen in Erfüllung zu gehen. Am 10. Januar 1912 setzte ihm Bethmann Hollweg auseinander, daß eine Verständigung mit Großbritannien dem Deutschen Reich «ein großes Kolonialreich» mit den portugiesischen und niederländischen Kolonien sowie dem belgischen Kongo bringen würde. Nicht nur das, ein deutsch-englisches Abkommen würde «einen Keil in die Tripleentente einschlagen» und somit die deutsche Vorherrschaft auf dem Festland sichern. Der Kaiser jubelte und sah sich, wie Müller am 7. Februar notierte, «schon als Leiter der Politik der Vereinigten Staaten von Europa u. ein deutsches Kolonialreich quer durch Central Afrika». An Walther Rathenau schrieb Wilhelm, sein Plan sei die Schaffung der «Vereinigten Staaten von Europa gegen Amerika. […] Fünf Staaten (inkl. Frankreich) könnten dann etwas ausrichten.» Tirpitz dagegen witterte hinter der überraschenden Annäherung Albions nichts als den perfiden Versuch, seine Schlachtflottenpläne zu torpedieren, durch die allein England gezwungen werden könne, die deutsche
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