Wilhelm II.
Aktion Kiderlens Bedenken zu äußern, zeigte sich Wilhelm während der Reise ungeduldig über den schleppenden Gang der Verhandlungen, durch die Frankreich zur Abtretung seiner gesamten Kongo-Kolonie an Deutschland gezwungen werden sollte. Kiderlen müsse die Verhandlungen beschleunigen und vor allem auf die Abtretung von Französisch-Kongo bestehen. Kiderlen wiederum, wohl in Erinnerung an den plötzlichen Rückzug, den der Kaiser in der Ersten Marokkokrise vorgenommen hatte, drohte mit seinem Rücktritt, falls ihm der Monarch im entscheidenden Augenblick das «Allerhöchste Vertrauen» entziehen sollte. «Ich glaube nicht, daß die Franzosen den Fehdehandschuh aufnehmen», schrieb er, «aber sie müssen fühlen, daß wir zum Äußersten entschlossen sind.»
Wie eine «Ohrfeige» empfanden der Kaiser, der Kanzler und die national gesinnte deutsche Öffentlichkeit die Mahnung des britischen Schatzkanzlers David Lloyd George vom 21. Juli 1911, Großbritannien würde seinem Ententepartner zur Seitestehen, falls es zum Krieg zwischen Deutschland und Frankreich kommen sollte. Wieder einmal stand Europa am Rande eines großen Krieges. Bei der Rückkehr der
Hohenzollern
nach Swinemünde hielt Kiderlen dem Kaiser einen «schnoddrigen Vortrag», in dem er einräumte, wie Admiral von Müller notierte: «Krieg mit Frankreich jetzt sehr inopportun, da sicher England auf Seiten Frankreichs u. dann unsere Bundesgenossen mehr oder weniger wertlos. S. M. sehr still. Stimmte aber zu.» Die Baronin Spitzemberg erfuhr jedoch, der Kaiser sei in Swinemünde «keineswegs schlapp, sondern schärfer noch gewesen als seine Minister!» Aufgebracht sprach Wilhelm von der «colossalen französischen Unverschämtheit», die mit der «Würde des Deutschen Reichs u[nd] Volks» nicht vereinbar sei. «Die Franzosen müssen so oder so den Graben springen, oder die Sporen kriegen», erklärte er. Und falls die Engländer an der französischen oder belgischen Küste Truppen landen sollten, hätte Deutschland ja «Unterseeboote!» Auch der Generalstabschef von Moltke klagte verbittert: «Wenn wir aus dieser Affäre wieder mit eingezogenem Schwanz herausschleichen, wenn wir uns nicht zu einer energischen Forderung aufraffen können, die wir bereit sind, mit dem Schwert zu erzwingen, dann verzweifle ich an der Zukunft des Deutschen Reiches.» Der preußische Kriegsminister präzisierte, die Armee sei «vollkommen auf den Fall eines Krieges mit Frankreich vorbereitet», freilich ohne ihn direkt zu wünschen.
Wilhelm II. war nicht Initiator des desaströsen «Panthersprungs» nach Agadir gewesen und hatte auch wenig Freude an den 275.000 Quadratkilometern Sumpfgebiet, die Kiderlen den Franzosen schlußendlich abnötigen konnte. Nicht Kolonialerwerbungen, sondern eine globale Machtverschiebung zugunsten des Deutschen Reiches war das erklärte Ziel des Kaisers. So rückte nach der kriegerischen Konfrontation mit Rußland wegen Bosnien und der waghalsigen Bedrohung Frankreichs wegen Marokko das Britische Weltreich, das sich in der Agadir-Krise wieder einmal als Garant des bestehenden europäischen Staatensystems erwiesen hatte, als Hauptfeind der wilhelminischen Weltmachtpolitik ins Visier.
Schlachtflottenbau trotz erhöhter Kriegsgefahr (1911–1912)
Während Bethmann Hollweg seine Bemühungen um eine Verständigung mit England intensivierte, bestanden der Kaiser und Tirpitz auf einer massiven Beschleunigung des Schlachtflottenbaus selbst auf die Gefahr hin, daß die Briten als Antwort darauf einen Präventivschlag gegen die deutsche Flotte unternehmen würden. Selbst Tirpitz erkannte an, daß seine Flotte in einem Kampf gegen die Royal Navy kaum Chancen haben würde. Der jetzige Zeitpunkt sei «so ungünstig wie möglich», jedes Jahr bringe Vorteile. Er zählte die Maßnahmen auf, die durchgeführt werden müßten, um zu einer günstigeren Ausgangslage zu kommen: «Helgoland, Kanal, Dreadnoughts, U-Boote usw.» Innerhalb der Admiralität plädierten einflußreiche Stimmen für einen Aufschub der Auseinandersetzung mit dem ozeanischen Weltreich, bis wenigstens der Kaiser-Wilhelm-Kanal für Großkampfschiffe der
Dreadnought
-Klasse passierbar sei, d.h. bis 1914. Doch Wilhelm II. bestand mit Macht auf dem Bau von drei Schlachtschiffen und drei Großen Kreuzern pro Jahr, koste es, was es wolle. Bei der geforderten Flottenvermehrung handele es sich «nicht nur um eine Lebensfrage für die weitere Entwickelung der Marine, sondern um eine Lebensfrage für
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