Wilhelm II.
scheiterten vor allem an der Weigerung der Engländer, ihre Ententen mit Frankreich und Rußland aufzukündigen, um Deutschland eine hegemoniale Stellung auf dem Festland einzuräumen. Während der Trauerfeierlichkeiten für seinen Onkel Edward im Mai 1910 und dann wieder bei der Einweihung des Denkmals für seine Großmutter Queen Victoria ein Jahr darauf ließ der Kaiser den Zauber seiner Persönlichkeit in dem Glauben spielen, vor allem seinen Vetter George V. für ein Abkommen mit Deutschland gewinnen zu können. Tatsächlich leistete sich Wilhelm bei diesem Besuch – es sollte sein letzter sein – eine der verheerendsten Tiraden seiner Regierungszeit, deren verhängnisvolle Wirkung auf die britische Politik nicht ausblieb. Dem Prinzen Louis von Battenberg sagte er am 20. Mai 1911 an Bord der
Hohenzollern
, er wünsche ernsthaft die freundschaftlichsten Beziehungen zu England herzustellen, aber «Ihr dürft nicht jedes Gespräch mit dem Vorbehalt einleiten, daß Ihr nicht zu einer Verständigung über diesen oder jenen Gegenstand kommen könnt, falls er die Interessen Frankreichs oder Rußlands berühre.» Den EinwandBattenbergs, das gute Verhältnis Großbritanniens zu diesen beiden Ländern sei doch «das natürliche & notwendige Gegengewicht gegen den Dreibund», wies Wilhelm vehement zurück. «Der Kaiser loderte auf & fuhr mit mehr & mehr Wärme, um nicht zu sagen Hitze, fort, diese Anschauung über die balance of power in Europa ins Lächerliche zu ziehen», stellte der Prinz fest. «Ihr in England müßt dazu gebracht werden zu verstehen, daß Deutschland der einzige Gebieter über Frieden oder Krieg auf dem Kontinent ist», habe Wilhelm ausgerufen. «Wenn wir kämpfen wollen, werden wir das tun, mit oder ohne Eure Erlaubnis.»
Seine Aufzeichnung über das Gespräch schickte Battenberg an den jungen König, der sie umgehend an Premierminister Asquith weiterleitete. Dieser wiederum zeigte sie dem Außenminister Sir Edward Grey. Alle waren erschüttert und fragten sich ernsthaft, ob der deutsche Monarch noch bei Sinnen sei. Asquith meinte: «Man ist fast versucht in einigen der Dinge, die er zu Prinz Battenberg äußerte, die Ausgeburten eines gestörten Gehirns zu erkennen; aber (selbst wenn es so ist) sind sie nichtsdestoweniger gefährlich.» Im Foreign Office setzte sich fester denn je die Überzeugung durch, daß Deutschland die Hegemonie in Europa anstrebe. Jedenfalls trugen die Drohungen des Kaisers zum Entschluß der Londoner Regierung bei, sich schützend vor Frankreich zu stellen, als mit der Zweiten Marokkokrise die nächste große Kraftprobe um die Vorherrschaft auf dem Kontinent begann.
Nicht Kaiser Wilhelm, sondern der trinkfreudige und willensstarke Schwabe Alfred von Kiderlen-Wächter hatte den kühnen Plan ersonnen, auf die französische Besetzung der marokkanischen Stadt Fes mit der Entsendung des Kanonenboots
Panther
nach Agadir zu antworten, um für Deutschland unter der Androhung eines Krieges Kompensationen herauszuschlagen. Kiderlens Endziel war nicht die Annexion Südmarokkos, sondern die Errichtung eines riesigen deutschen «Mittelafrikas», das schließlich Deutsch-Südwestafrika, Deutsch-Ostafrika, Belgisch-Kongo, Französisch-Kongo, Kamerun und Togo, Angola und Moçambique umfassen würde. Indem er aber in nationalistischenund schwerindustriellen Kreisen Erwartungen auf marokkanisches Gebiet schürte, um seine Verhandlungsposition gegen Frankreich zu stärken, setzte er auch den Kaiser in gefährlicher Weise unter Druck, denn als die waghalsige Aktion zu scheitern drohte, wurde der Kaiser gerade in solchen Kreisen als «Wilhelm der Friedliche» beschimpft. Dort sprach man von einem neuen «Olmütz» und fragte, was denn aus dem alten Preußentum geworden sei; «Sind wir ein Geschlecht von Weibern geworden?»
Sowenig sich der Kaiser auch für den Erwerb von weiteren Kolonien in Afrika begeisterte, klar ist, daß Wilhelm II. seit Anfang Mai 1911 über Kiderlens Zielsetzung informiert war und dessen provokative Aktion auch mehrmals formell – zuletzt in Kiel am 26. Juni 1911 – gutgeheißen hat. Am 5. Juli trat Wilhelm seine alljährliche Reise entlang der Küste Norwegens an. Trotz der Spannung nahm die Nordlandfahrt anfangs ihren gewohnten sorglosen Lauf. Der Chef des Marinekabinetts notierte in sein Tagebuch: «Beim Turnen morgens große Albernheit. S. M. schnitt [Generaladjutant von] Scholl mit einer Taschenschere die Hosenträger durch.» Weit entfernt, gegen die
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