Wilhelm II.
Handstreich auf Lüttich und der Einmarsch in Luxemburg fortgesetzt, und die Würfel des Krieges wurden geworfen. Der Kaiser legte sich tagelang ins Bett. Auch Moltkes Nervensystem war «auf das Schwerste in Mitleidenschaft gezogen». In derLondoner Botschaft irrte Fürst Lichnowsky wie ein Gebrochener im Schlafanzug durch die Räume, als der amerikanische Botschafter zur Übernahme der deutschen Geschäfte eintraf. Die Fürstin Mechtild Lichnowsky wischte das Porträt Kaiser Wilhelms vom Schreibtisch ihres Mannes und rief aus: «Das ist das Schwein, das dies verbrochen hat!»
Dieses Urteil, in einem Zustand der Verzweiflung ausgerufen, ist etwas zu hart. Wilhelm II. handelte keineswegs allein, er war noch nicht einmal der Hauptantreiber zum Krieg und wurde in der Julikrise bisweilen von seinen Ratgebern hinters Licht geführt, vor allem dann, als er «umzufallen» drohte. Diese Ratgeber hatte er jedoch alle persönlich ausgewählt, weil sie ihm forsch oder geschmeidig vorkamen, und im Amt gehalten, weil sie die Richtlinien seiner Politik vertraten. Das zwei Jahrzehnte hindurch von ihm praktizierte Persönliche Regiment hatte im preußisch-deutschen Staatsapparat und zum Teil auch im Offizierskorps eine dysfunktionale Polykratie sowie eine höfische Kultur hervorgebracht, in der sich umsichtige Mahner wie beispielsweise Metternich oder Lichnowsky kein Gehör verschaffen konnten. Je mehr die heroisch-militaristische Persönliche Monarchie Wilhelms II. in Gegensatz zur überwiegenden Mehrheit des deutschen Volkes geriet, desto bedrohter fühlten sich der Oberste Kriegsherr und seine Paladine von Heer und Flotte auch im Reich. Es galt, aus der innen- und außenpolitischen Einkreisung auszubrechen, ehe es dafür zu spät wurde, und das mit den Bismarckschen Mitteln des provozierten Defensivkrieges. Der Kaiser mag gelegentlich gezaudert haben, als es gegen Ende der Julikrise 1914 brenzlig wurde, klarer als seine Heerführer und Diplomaten hat er nach Jahren der unerbittlichen flottenpolitischen Herausforderung die Gefahr erkannt, die dem Deutschen Reich in einem Kontinentalkrieg durch die Teilnahme Großbritanniens drohte. Dennoch steuerte er in seinem Verkehr mit Erzherzog Franz Ferdinand und seinem Intimfreund Fürstenberg just auf den europäischen Krieg zu, vertrauend auf seine geheuchelte Familienverbundenheit mit dem englischen Königshaus. So trifft ihn doch schwere Schuld – vielleicht die schwerste überhaupt –, die Urkatastrophe Europas heraufbeschworenzu haben. Als Kronzeuge für die entscheidende Rolle, die Wilhelm II. am Vorabend des Weltkriegs spielte, kann der langjährige Botschafter Österreich-Ungarns, Szögyény, angeführt werden, der noch im August 1913 seinem Außenminister versicherte: «Wenn ich mir die Frage stelle, wer jetzt eigentlich die Auswärtige deutsche Politik leitet, so kann ich mir nur die Antwort geben, dass weder Herr von Bethmann Hollweg noch Herr von Jagow sondern Kaiser Wilhelm selbst die Leitung der Auswärtigen Politik in Händen hat, und dass in dieser Beziehung der Reichskanzler und der Staatssekretär nicht in der Lage sind, auf Seine Majestät einen entsprechenden Einfluss auszuüben.»
VI. Der größenwahnsinnige Gottesstreiter (1914–1918)
Die Kriegsziele des Kaisers
Für Wilhelm II. war der blutige Völkerkonflikt von 1914/18 nicht zuletzt eine weltweite Auseinandersetzung zwischen dem göttlichen Prinzip der Monarchie und der diabolischen Idee der Demokratie. Noch im März 1918, als Ludendorff einen Durchbruch an der Westfront erzielt zu haben schien, rief der Kaiser aus: «Die Schlacht ist gewonnen, die Engländer total geschlagen» und «wenn ein englischer Parlamentär komme, um den Frieden zu erbitten so müsse er erst vor der Kaiserstandarte knien, denn es handele sich um den Sieg der Monarchie über die Demokratie». Während Millionen ihr Leben ließen oder verstümmelt wurden, bildete sich der Kaiser ein, nur er und die anderen gekrönten Häupter Europas hätten das Recht, die Friedensverhandlungen zu führen.
Aber wie stellte er sich den «deutschen Gottes-Frieden» vor? Nicht nur für ihn war der Weltkrieg eine Fortsetzung der Weltmachtpolitik der vorangegangenen zwanzig Jahre mit anderen Mitteln, eine Rückkehr zum Status quo vor dem Krieg undenkbar.In seiner berüchtigten Denkschrift vom 9. September 1914 hatte Bethmann Hollweg das allgemeine Ziel des Krieges als die «Sicherung des Deutschen Reiches nach West und Ost auf erdenkliche Zeit»
Weitere Kostenlose Bücher