Wilhelm II.
als Vorstufe zur Mobilmachung, doch Bethmann hielt zurück in der Hoffnung, daß sich Rußland doch noch durch eine Kriegserklärung ins Unrecht setzen würde. Sie vereinbarten, bis 12 Uhr mittags am 31. Juli zu warten, und als die Nachricht von der russischen Erklärung 20 Minuten vor Ablauf dieser Frist eintraf, brach inBerlin Jubel aus. «Überall strahlende Gesichter», meldete Wenninger nach einem Besuch im Kriegsministerium. Wilhelm gab die Anweisung zur Ausrufung der «drohenden Kriegsgefahr» und übersiedelte mit seinem Bruder und den Söhnen von Potsdam nach Berlin. Am Nachmittag gab er im Sternensaal vor den versammelten Militärs laut Falkenhayn «ein Exposé über die Lage, in dem Rußland die ganze Schuld zugeschoben wird. Seine Haltung und Sprache sind würdig eines Deutschen Kaisers! würdig eines preußischen Königs.» Wilhelm wies den Reichskanzler an, ein Ultimatum an Rußland und dann auch an Frankreich zu richten. Bei der Unterzeichnung der Mobilmachungsorder am 1. August 1914 hatten der Kaiser und der Kriegsminister Tränen der Rührung in den Augen. Der Oberste Kriegsherr hielt eine Rede vom Schloßbalkon, die die gewünschte Volksbegeisterung hervorrief. «Stimmung glänzend», notierte Müller in sein Tagebuch. «Die Regierung hat eine glückliche Hand gehabt, uns als die Angegriffenen hinzustellen.» An Kaiser Franz Joseph richtete Wilhelm ein Telegramm, das den Krieg gegen Serbien für «ganz nebensächlich» erklärte; jetzt müsse Österreich «seine Hauptkraft gegen Rußland» einsetzen und nicht durch eine gleichzeitige Offensive gegen Serbien zersplittern. Er richtete Briefe an die Könige von Italien, Griechenland und Rumänien sowie an die Regierungen in Sofia und Konstantinopel mit der Aufforderung, mit Deutschland gegen den gemeinsamen Feind zu kämpfen.
An jenem 1. August ereignete sich noch die wohl bekannteste Episode der ganzen Krise. Nachdem Moltke und Falkenhayn das Schloß verlassen hatten, um «die schwerste Blutarbeit» zu beginnen, «die je die Welt gesehen hat» (Falkenhayn), wurden sie zurückbefohlen und mit der Mitteilung konfrontiert, in einem neuen Telegramm aus London habe Lichnowsky die englische Neutralität in Aussicht gestellt, falls Deutschland nur Rußland und nicht Frankreich angreife; ja, in einem solchen Fall werde es mit seiner Armee und Flotte für die Neutralität Frankreichs einstehen. Zum Entsetzen Moltkes rief der Oberste Kriegsherr aus: «Also wir marschieren einfach mit der ganzen Armee im Osten auf!» Als der Generalstabschef auf die Unmöglichkeithinwies, ein Millionenheer von der Westfront an die Ostfront umzudirigieren, fuhr ihn der Kaiser «sehr ungehalten» mit den Worten an: «Ihr Onkel würde mir eine andere Antwort gegeben haben!» Durch Generaladjutant von Plessen befahl er, den Überfall auf Luxemburg und Belgien telegraphisch anzuhalten. Moltke bekam einen Nervenzusammenbruch, wurde rot und blau im Gesicht und weinte Tränen der Verzweiflung. Wie vom Schlag getroffen, stieß er den Seufzer aus: «Gegen die Franzosen und Russen will ich Krieg führen, aber nicht gegen einen solchen Kaiser.»
So gut man seine Frustration verstehen kann, Moltkes Reaktion auf die (allerdings bizarre) Nachricht aus London wurde von den übrigen anwesenden Militärs und Staatsmännern nicht geteilt; sie alle hielten den Befehl des Kaisers, den Westaufmarsch einzustellen, für sachgerecht, schien doch das angebliche Angebot Greys Deutschland die Möglichkeit zu bieten, den Krieg gegen Rußland unter geradezu idealen Umständen zu führen. Die Jubelstimmung im Schloß schlug höher noch, als um 20.30 Uhr ein weiteres Telegramm Lichnowskys den Krieg gegen Rußland
und
Frankreich ohne englische Einmischung in Aussicht stellte. In «sehr gehobener Stimmung» ließ der Kaiser Sekt kredenzen; das jahrelang angestrebte Ziel seiner Hegemonialpolitik schien erreicht.
Die Ernüchterung kam noch in der Nacht. Verwundert durch das erfreute Telegramm, das der Kaiser als Antwort auf die erste Depesche Lichnowskys an ihn gerichtet hatte, rief George V. den Außenminister Grey in den Buckingham Palace. Dieser entwarf das Antworttelegramm des Königs, das Lichnowskys Meldung als ein Mißverständnis erklärte; an der britischen Haltung habe sich nichts geändert. Um 23 Uhr wurde Moltke ins Schloß befohlen. Der Kaiser war schon im Bett, empfing den Generalstabschef im Schlafrock und sagte ihm «sehr erregt»: «Nun können Sie machen, was Sie wollen.» So wurden der
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