Wilhelm Storitz' Geheimnis
zu wollen, daß ich Wilhelm Storitz’ unentzifferbares Geheimnis erraten hatte, mußte ich mir doch gestehen, daß ich ein gutes Stück auf dem Wege dazu fortgeschritten war.
Einige erklärende Worte scheinen mir hier, wenn sie auch recht trocken sind, unerläßlich.
Wenn ein Strahlenbündel des Sonnenlichtes auf ein Prisma auffällt, so zersetzt sich das Licht, wie man weiß, in sieben Farben, die in ihrer Gesamtheit das weiße Sonnenlicht bilden. Diese Farben – violett, indigo, blau, grün, gelb, orange, rot – bilden das »Sonnenspektrum«. Aber diese sichtbare Farbentonleiter kann nur ein Teil des vollständigen Spektrums sein. Es müssen noch andere für unsere Sinne nicht wahrnehmbare Farben existieren. Warum sollten nicht diese Lichtstrahlen, die zur Stunde noch unbekannt sind, von den bekannten Strahlen ganz verschiedene Eigenschaften aufzuweisen haben? Diese können nur eine ganz geringe Anzahl fester Körper durchdringen, z. B. das Glas; vielleicht durchdringen jene alle festen Körper. 1 Vielleicht verhält es sich wirklich so, aber wir merken es nicht, weil unsere Sinne diese Strahlen nicht zu erkennen vermögen. Es wäre nicht unmöglich, daß Otto Storitz die diese Eigenschaft besitzenden Strahlen entdeckt und die Formel einer Zusammensetzung erfunden habe, die, wenn sie in den Organismus eingeführt wird, die doppelte Fähigkeit entwickeln würde, sich auf seiner Peripherie zu verbreiten und das Wesen der im Sonnenspektrum enthaltenen verschiedenen Strahlen zu verändern.
Sobald man diese Möglichkeit annahm, war alles erklärt. Das Licht, das auf den undurchsichtigen Körper, der von dieser Strahlung durchdrungen wird, auffällt, zersetzt sich und alle Strahlen, aus denen es besteht, verwandelten sich ausnahmslos in jene unbekannten Ausstrahlungen, deren Vorhandensein ich ahnte. Diese Strahlen durchdringen diese Körper und erleiden, im Momente des Austretens aus denselben, eine Veränderung im entgegengesetzten Sinne, nehmen die ursprünglichen Eigenschaften wieder an und wirken auf unser Auge so, als ob der dichte Körper nicht dazwischen läge.
Zwar blieb noch so mancher Punkt rätselhaft. Wie sollte man erklären, daß nun auch die Kleidungsstücke Wilhelm Storitz’ unsichtbar wurden wie er selbst, während die Gegenstände, die er in der Hand hielt, sichtbar bleiben?
Und was war das für eine geheimnisvolle Substanz, durch die solche ans Wunderbare streifende Wirkungen erzielt wurden? Das konnte ich nicht erraten, was sehr bedauerlich war, denn hätte ich Kenntnis davon besessen, so hätte auch ich davon Gebrauch machen und unseren Feind mit gleichen Waffen bekämpfen können. Aber vielleicht war es nicht unmöglich, ihn auch ohne diesen Vorteil zu überwinden. Ich stand vor einem Dilemma: wie immer diese Substanz beschaffen sein mochte, entweder war ihre Wirkung eine vorübergehende oder eine immerwährende. Im ersten Falle mußte Wilhelm Storitz in kurzen oder längeren Zwischenpausen eine neue Dosis zu sich nehmen. Im anderen Falle mußte er notwendigerweise manchmal den Effekt seines Wundertrankes durch ein anderes Mittel, gewissermaßen ein Gegengift, aufheben, denn es konnten Fälle eintreten, wo die Unsichtbarkeit nicht eine Überlegenheit, sondern das gerade Gegenteil bedeutete. In beiden Fällen aber war Wilhelm Storitz gezwungen, sich die notwendige Substanz zu verschaffen, sie entweder neu herzustellen oder aus einem bestehenden Vorrat zu holen, denn die Menge, die er mit sich führen konnte, war unmöglich unerschöpflich.
Nachdem ich dieses festgestellt hatte, forschte ich weiter, welchen Zweck das Glockengeläute und das Schwingen der Fackel verfolgen konnten? Das paßte nicht zu den übrigen Vorfällen, stand in keinem Zusammenhange mit ihnen, wie ich schon bemerkt habe. Es war kaum etwas anderes daraus zu schließen, als daß Wilhelm Storitz, berauscht von seinen Erfolgen und der unüberwindlichen Kraft, die er sich zuschrieb, zu kindischen, sinnlosen Kundgebungen geschritten war, vielleicht auch, daß er sich langsam der Geistesgestörtheit näherte. Das wäre eine günstige Lösung der Frage gewesen und die Prüfung der Tatsachen ließ sie als wahrscheinlich erkennen.
Nach all diesen Schlußfolgerungen suchte ich Herrn Stepark auf. Ich teilte ihm das Ergebnis meines Gedankenganges mit und auf gemeinsames Übereinstimmen wurde beschlossen, daß das Haus auf dem Tököly-Wall Tag und Nacht von einer Abteilung Polizeileute oder Soldaten eingeschlossen werden sollte, so
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