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Wilhelm Storitz' Geheimnis

Wilhelm Storitz' Geheimnis

Titel: Wilhelm Storitz' Geheimnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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davon, daß Myras Gesundheitszustand eine Abreise von Ragz ganz unmöglich machte.
    Wo mochte er jetzt gerade sein, unser ungreifbarer Feind? Kein Mensch war imstande, es mit Gewißheit zu sagen, wenn nicht eine Reihe von Ereignissen uns plötzlich gezeigt hätte, daß er voll Starrsinns inmitten der Bevölkerung verblieben war, diese herausforderte und terrorisierte.
    Der erste neuerliche Zwischenfall setzte unserer Verzweiflung die Krone auf. Zwei ganze Tage waren nach der fürchterlichen Szene in der Kirche St. Michael verflossen, ohne daß in Myras Befinden eine Besserung eingetreten wäre; sie lag noch immer der Vernunft beraubt im Bette und schien zwischen Leben und Tod zu schweben. Es war am 4. Juni. Nach dem Frühstück war die Familie Roderich, mein Bruder und ich in der Galerie versammelt und wir besprachen lebhaft, welche Taktik wohl am besten einzuschlagen sei, als ein wahrhaftig satanisches Gelächter an unser Ohr schlug.
    Wir sprangen ganz entsetzt von unseren Sitzen auf. Markus und Hauptmann Haralan stürzten gleichzeitig wie wahnsinnig nach der Seite der Galerie, an der das entsetzliche Lachen erklungen war, aber nach wenigen Schritten schon blieben sie stehen. Alles spielte sich in zwei Sekunden ab. Während dieser Zeit sah ich einen Blitz aufflammen, es war eine glänzende Klinge, die im tödlichen Stoße durch die Luft fuhr, ich sah, wie mein Bruder taumelte und Hauptmann Haralan ihn in seinen Armen auffing….
    Ich sprang hinzu, um zu helfen, als eine Stimme – diese Stimme, die wir jetzt nur zu gut kannten! – mit dem Ausdruck unerschütterlicher Willenskraft rief: »Myra Roderich wird niemals Markus Vidals Gattin werden!«
    Im selben Augenblick zitterte der Kronleuchter unter einem heftigen Luftstoß, die Gartentüre wurde geöffnet und heftig ins Schloß geworfen und es wurde uns klar, daß unser unversöhnlicher Feind uns abermals entkommen war.
    Hauptmann Haralan und ich legten Markus auf ein Ruhebett nieder, wo Dr. Roderich ihn untersuchte. Es handelte sich zum Glück um eine leichte Verwundung. Die Klinge des Dolches war das linke Schulterblatt entlang geglitten und hatte nur eine lange Fleischwunde verursacht, die, obwohl sie sehr böse aussah, in wenigen Tagen geheilt sein konnte. Dieses Mal hatte der Mörder seine Absicht nicht erreicht. Ob es aber immer so glücklich ausfiel?
    Nachdem der Verband angelegt war, wurde Markus ins Hotel Temesvár gebracht und ich wachte an seinem Bette und vertiefte mich dabei in das Studium der Rätsel, die all meinem Scharfsinn widerstanden und die doch ihre Lösung finden mußten, wenn nicht das Leben vieler, die meinem Herzen nahe standen, bedroht werden sollte.
     

    Ich sah, wie mein Bruder taumelte. (S. 160.)
     
    Ich war noch nicht weit gekommen in meinem Nachgrübeln, als neue merkwürdige Zwischenfälle, nicht dramatischer, sondern eher wunderlicher, zusammenhangloser Natur meine Aufmerksamkeit in Anspruch nahmen.
    Am Abende dieses Tages (4. Juni) erschien eine mächtige Leuchte, die weithin bis zum Kurtz-Platz und zum Koloman-Markt bemerkt werden konnte, am höchsten Fenster des Glockenturmes. Eine flammende Fackel hob und senkte sich, wurde hin-und hergeschwenkt; es sah aus, als ob ein Brandstifter das ganze Gebäude in Flammen setzen wollte.
    Der Polizeichef und seine Leute verließen eiligst den Zentralwachposten und hatten in kürzester Zeit die Spitze des Glockenturmes erreicht.
    Das Licht war aber verschwunden und – wie übrigens Herr Stepark vermutet hatte – niemand war zu sehen. Auf dem Boden lag die erloschene Fackel. von der ein harziger Brandgeruch sich loslöste, glimmende Funken lagen noch auf dem Dache. aber der Brandstifter war verschwunden.
    Entweder hatte das Individuum – nennen wir es Wilhelm Storitz – Zeit gefunden, sich zu flüchten, oder es verbarg sich, unauffindbar, in einem Winkel des Glockenturmes.
    Die auf dem Platze sich häufende Volksmenge stieß vergebens zornige Racherufe aus; der Schuldige lachte ihrer.
    In den Morgenstunden des nächsten Tages wartete eine neue Herausforderung auf die vor Schreck verstörten Bewohner.
    Eben hatte es zehn Uhr geschlagen, als ein unheimliches Glockengeläute anhub, es klang wie Grabeston, wie ein Schreckenssignal.
    Für einen einzelnen Mann war es unmöglich, den schweren Glockenapparat der Kathedrale in Bewegung zu setzen; Wilhelm Storitz mußte also Mithelfer haben, zum mindesten seinen Diener Hermann.
    Die Leute drängten nach dem St. Michaels-Platz, selbst aus den

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