Wilhelm Storitz' Geheimnis
stehen, noch diese neue Waffe in die Hand gegeben werden!
Auch in der Stadt besserte sich die Lage keineswegs. Obwohl sich kein neuerlicher Zwischenfall ereignet hatte, seitdem Wilhelm Storitz von der Höhe des Glockenturmes sein »Ich bin da!« gerufen hatte, stieg das Entsetzen in der Bevölkerung von Stunde zu Stunde. In jedem Hause glaubte man sich von dem Unsichtbaren verfolgt. Selbst die Kirchen boten keinen Zufluchtsort mehr, nachdem sich die letzte große Schreckensszene in der Kathedrale abgespielt hatte. Vergebens versuchte die Autorität dagegen anzukämpfen, es gelang nicht, denn der blinden Furcht gegenüber ist man machtlos.
Zum Beweise, welchen Grad die Aufregung und Unzurechnungsfähigkeit der Leute erreicht hatte, zitiere ich folgende Tatsache:
Am Vormittage des 12. Juni hatte ich das Haus verlassen, um mich zum Polizeichef zu begeben. Als ich in die Prinz Milosch-Straße einbog und vielleicht noch zweihundert Schritte von dem St. Michaels-Platz entfernt war, erblickte ich Hauptmann Haralan. Ich holte ihn ein, und sagte: »Ich bin auf dem Wege zu Herrn Stepark; begleiten Sie mich, Hauptmann?«
Er antwortete nicht, schlug aber mechanisch die gleiche Richtung ein, wie ich. Wir näherten uns dem Kurtz-Platz, als ein lautes Schreckensgeschrei ertönte.
Ein mit zwei Pferden bespannter Leiterwagen kam in rasender Schnelligkeit die Straße herab. Die Passanten stoben nach allen Seiten auseinander. Wahrscheinlich war der Kutscher herabgeschleudert und die sich selbst überlassenen Pferde waren scheu geworden.
Sollte man es für möglich halten! Einige Passanten, welche gleich den Pferden die Herrschaft über sich selbst verloren hatten, bildeten sich ein, daß ein unsichtbares Wesen den Wagen lenke, daß Wilhelm Storitz den Platz des Kutschers einnehme. Ihr Geschrei drang zu uns:
»Er!… Er!… Er ist es!«
Ehe ich mich nach dem Hauptmann umwenden konnte, war dieser nicht mehr an meiner Seite. Ich sah, wie er dem heranstürmenden Leiterwagen entgegeneilte, wohl in der Absicht, den Pferden in die Zügel zu fallen, sobald dieselben ihn erreichten.
Die Straße war zu dieser Stunde sehr belebt. Von allen Seiten ertönte der Name »Wilhelm Storitz«. Man schleuderte Steine nach dem Gespann, ja, die allgemeine Tollheit ging so weit, daß aus einem Laden an der Ecke der Milosch-Straße Schüsse auf die Pferde abgefeuert wurden.
Eine Kugel verwundete das eine Pferd am Schenkel, es brach zusammen und der Wagen wurde umgeworfen.
Augenblicklich stürzte die zügellose Menge herzu, umklammerte die Räder, den Wagenkasten, die Deichsel. Hundert Arme streckten sich aus, um Wilhelm Storitz zu fassen…. Sie griffen ins Leere.
War es dem unsichtbaren Lenker wieder gelungen, rechtzeitig vom Leiterwagen abzuspringen, ehe dieser umgerissen wurde? Alle waren überzeugt, daß er der Stadt einen neuen Schrecken einzujagen beabsichtigte.
Aber diesmal war er unschuldig, das mußte man bald einsehen. Es dauerte nicht lange, als ein Bauer aus der Pußta herbeigeeilt kam, dessen Pferde während seiner kurzen Abwesenheit am Koloman-Markt die Flucht ergriffen hatten. Er geriet in heftigen Zorn, als er eines verwundet am Boden erblickte. Man hörte ihn gar nicht an und einen Moment befürchtete ich sogar, daß die empörte Menge den armen Menschen mißhandeln wolle; nur schwer konnten wir ihn gegen die blinde Wut der Angreifer schützen.
Ich zog Hauptmann Haralan fort und er folgte mir widerstandslos und schweigend ins Rathaus.
Herr Stepark war schon von dem Vorfall in der Milosch-Straße unterrichtet worden.
»Die ganze Stadt ist verrückt, sagte er, es ist gar nicht abzusehen, welche Dimensionen diese Verrücktheit noch annehmen wird!«
Ich stellte meine gewöhnlichen Fragen:
»Hat sich irgend etwas Neues zugetragen?
– Ja, antwortete Herr Stepark, man hat mir aus Spremberg berichtet, daß Wilhelm Storitz sich dort aufhalte.
– In Spremberg, rief Hauptmann Haralan und sah mich an. – Ihm nach! Ich habe Ihr Versprechen!«
Ich antwortete nicht, denn ich war von der Nutzlosigkeit dieser Reise überzeugt.
»Warten Sie noch, Hauptmann Haralan, unterbrach ihn Herr Stepark. Ich habe mich nach Spremberg um die Bestätigung dieser Angabe gewandt, der Bote kann jeden Augenblick da sein.«
Es verstrich keine halbe Stunde, als dem Polizeichef ein Brief übergeben wurde, den ein Eilbote gebracht hatte. Die Nachricht entbehrte jeder sicheren Grundlage. Wilhelm Storitz war nicht in Spremberg gesehen worden, man glaubte
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